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Unsichtbar im System: Mein Kampf als Care-Leaver*in in einer ignoranten Kulturszene
von Van-Lam
Was passiert, wenn sogenannte Erwachsene über dein Leben bestimmen und niemand deine kreative Stimme hört? Ein Erfahrungsbericht über die unsichtbaren Barrieren in der Kulturellen Bildung für Care-Leaver*innen.
In meiner Kindheit hatte ich über mehrere Jahre hinweg eine Umgangsbegleitung vom Jugendamt. Sie unterstützte mich bei Schulsachen, bei meiner Gesundheit, aber auch bei spaßigen Aktivitäten, wie ins Kino zu gehen, Spiele zu spielen oder Crêpes zu machen. Mit 14 Jahren war ich das erste Mal mit ihr auf einem Konzert einer kleinen Band in einer gemütlichen, hellen Veranstaltungshalle. Ich war überrascht, wie schön die Stimmung in der Kulturwelt sein kann. Alle schienen sich leicht zu fühlen – sie sangen mit und tanzten. Inmitten meines so ernsten Lebens war dies einer meiner euphorischsten Momente: Auch ich könnte Teil von etwas Fröhlichem sein.
Damals lebte ich noch bei meiner Mutter. Da sie kaum Deutsch sprach und daher nur schwer Zugang zum bürokratischen System hatte, kam es immer wieder zu finanziellen, gesundheitlichen oder schulischen Schwierigkeiten. Gleichzeitig kämpfte ich mit Depressionen aufgrund früherer Traumata: Eltern, die in meinen jungen Jahren kaum für mich da sein konnten, die Gewalt meines Vaters.
Das Konzert bewegte mich dazu, in eine Wohneinrichtung zu ziehen, mit der Hoffnung, dass mein Leben anders, fröhlicher und besser, werden könnte. Und wer weiß, ob ich ohne dieses Konzert jemals mein Freies Soziales Jahr Kultur, geschweige denn ein Studium in Kulturwissenschaft und ästhetischer Praxis, absolviert hätte (obwohl ich nicht mal wusste, was „ästhetisch“ bedeutet)? Doch so einfach sollte es nicht werden: Auf dem Weg zur Professionalisierung in der Kulturszene würde ich als Care-Leaver*in noch viele Probleme bekommen, für die ich heute Namen habe: Klassismus, Adultismus, Rassismus…
Zuerst aber: Wer sind Care-Leaver*innen?
„Care-Leaver*in“ kommt aus dem Englischen und heißt wortwörtlich übersetzt „Fürsorge-Verlassende“. Es sind Personen jeglichen Alters, die einen Teil ihres Lebens in Pflegefamilien oder Einrichtungen der Jugendhilfe gelebt haben und diese „Fürsorge“ wieder verlassen.
Ich beziehe mich hier insbesondere auf Care-Leaver*innen, die in Wohneinrichtungen gelebt haben. In diesen sollten die Strukturen so gestaltet sein, dass Sozialarbeiter*innen und Erzieher*innen die Kapazitäten haben, Grundbedürfnisse der jungen Menschen erfüllen zu können, also z.B. Anerkennung, Aufmerksamkeit, Sicherheit oder emotionale Fürsorge. Doch oft können Mitarbeitende der Einrichtungen die familiären, finanziellen und persönlichen Probleme der jungen Menschen nicht auffangen. Auch das Hilfesystem für die ganze Familie der jungen Menschen, um rechtliche, schulische und gesundheitliche Themen zu klären, ist oft kompliziert und unpersönlich. Daher ist auch die Bildung der jungen Menschen mit vielfältigen Herausforderungen verbunden, die Care-Leaver*innen im Gegensatz zu ihren gleichaltrigen Peers oft alleine und nicht selbstverständlich bewältigen müssen.
2021 wurden rund 210.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland in Einrichtungen der Heimerziehung oder in Pflegefamilien betreut. Nach dem Datenreport zur sozialen Teilhabe von Care-Leaver*innen in Deutschland wurden 2017 dafür rund 6,5 Mrd. Euro öffentlicher Mittel eingebracht.
Zwischen Überleben und Kunst
Zurück zu meiner Professionalisierung als junger Mensch. Als ich in die Wohneinrichtung zog, dachte ich, es würde einfacher werden. Stattdessen sah ich mich mit vielen Problemen konfrontiert:
- Ich dachte, ich sei dumm, weil ich mich weder akademisch ausdrücken konnte, noch Namen von Künstler*innen oder Veranstaltungen kannte.
- Es fehlte Geld: Ich musste allein für meinen Lebensunterhalt sorgen. Ich konnte nur BAföG beziehen und erhielt nicht immer die erforderlichen Unterlagen meiner Eltern (es sei denn, ich hätte sie angezeigt).
- Ich musste aus 200 km Entfernung mit 1000 familiären Problemen umgehen, wie dem Hausbrand meiner Eltern.
- Ich war depressiv af (as fuck) und konnte mich kaum konzentrieren.
Bei jedem Vergleich mit gleichaltrigen Personen bewunderte ich sie: wie sie bereits ein ausgeprägtes Interesse für etwas entwickelt hatten, Energie besaßen, künstlerische und inspirierende Dinge zu tun, selbstbewusst waren und wussten, was sie wollten.
Andererseits begleitete ich mit den Jahren eine Person aus dem nahen Familienkreis, die im Gegensatz zu mir das Leben lang in einer Wohneinrichtung lebte, dabei, wie sie ihr Leben und beruflichen Weg bewältigen musste. Ich bemerkte, dass er ähnliche Probleme hatte wie ich. Auch er interessierte sich fürs Zeichnen und Filmen, entschied sich aber, diese Interessen nicht weiter zu verfolgen.
Warum?
- Er ist Kultureller Bildung und dem Begriff an sich nie zuvor begegnet und keine erwachsene Person zeigte ihm Angebote dazu.
- Sein Interesse für künstlerische Tätigkeiten wurde in der Wohneinrichtung nicht gefördert.
- Es gab generell kaum Förderung und Motivation für die Professionalisierung im Berufsleben in der Wohneinrichtung, es sei denn, er hätte starke Eigeninitiative gezeigt, um Angebote zu suchen.
- Selbst wenn er Angebote wahrnehmen wollte, gab es mehrere Haushaltsregeln, die ihn in seiner Aktivität eingeschränkt hätten.
- Woher das Geld? Das Taschengeld war beschränkt.
- Durch das gemeinsame Wohnen mit jungen Personen, die selbst familiäre und andere Probleme hatten, war es schwierig, ein unterstützendes soziales Umfeld aufzubauen.
- Durch das Lohnarbeitsverhältnis der Erzieher*innen und die vorgegebenen Regeln gab es kaum Bezugspersonen, die Interesse an seinen Interessen gezeigt haben.
- Durch die Scham, sich als Person, die in einer Wohneinrichtung wohnt, zu bekennen, war es schwierig, nach externer Unterstützung zu fragen.
Unsichtbar und ungehört
Für den Aufstieg - in meinem Fall die Professionalisierung in der Kulturszene - musste ich einen hohen Preis zahlen. Eine Erfahrung, die von Klassismus betroffene Personen kennen: Gefühle der Scham, Verleumdung sowie das Verschweigen meiner Erfahrung als Care-Leaver*in und die Entfremdung von meiner vorherigen Lebenssituation mitsamt den dort verbleibenden Menschen - wie erwähnten Familienmitglied.
Ich redete nur mit wenigen Personen darüber, wie unsere Eltern wieder Mist bauten, wir die Verantwortung tragen mussten oder wie wir genervt waren, dass andere (teilweise Fremde) Entscheidungen über uns trafen. Ich kam mir im Laufe meines Bildungsweges in der Kulturszene immer fremder vor und distanzierte mich von meiner eigenen damaligen Lebensrealität. Obwohl ich einige Verbindungen zu mir fand, indem ich mich in rassismus-, sexismus- und klassismuskritischen sowie künstlerischen Räumen bewegte, ist der Teil, der nie eine normative Fürsorge erlebt hat, immer noch versteckt und unsichtbar.
Ich frage mich, warum es der Care-Leaver*innen-Teil in mir so schwer hat, teilzuhaben. Und zugleich möchte ich fragen: Wo bleiben meine Gemeinschafts- und Reflexionsräume? Warum redet niemand darüber, wie es ist, wenn das Jugendamt bzw. der Staat über die Erziehung in deinem Leben bestimmt? Warum hat mich kaum jemand gefördert oder motiviert, kritisch zu denken und künstlerisch aktiv zu sein? Wo waren meine non-formalen oder informellen (künstlerischen) Bildungsräume? Warum werden wir nicht zusätzlich strukturell unterstützt?
Kulturelle Bildung ohne Care-Leaver*innen
Mit diesen Fragen trat ich vor ein paar Jahren in die Junge Jury des Berliner Projektfonds Kulturelle Bildung ein. Es ist ein Gremium von fünf Personen von 16- bis 27-Jährigen, die gemeinsam eine Stimme in der Jury von zehn Personen haben. Diese Jury entscheidet, ob Kulturelle Bildungsprojekte finanziell gefördert werden oder nicht. Durch die Jury-Tätigkeit verstand ich, was Kulturelle Bildung alles sein kann: „Räume, in denen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene die Ressourcen in die Hand bekommen, die Sie brauchen, um ihre Themen künstlerisch zu verhandeln und ihren Visionen eine Stimme zu geben - in Zeichnungen, in Texten, auf der Bühne, am Mikrofon, in Musikvideos, hinter oder vor der Kamera.“ (kultur_formen) Doch trotzdem las ich um die 500 Berliner Projektanträge und fand nie diesen Teil meiner Lebensrealität wieder.
Liegt das an der Ignoranz von sog. erwachsenen Personen, die Kulturelle Bildung nur innerhalb des bestehenden, anerkannten Bildungssystems denken und gestalten und Kinder vergessen, die kaum Fürsorge erlebt haben, insbesondere Care-Leaver*innen? Ignorieren sie, dass wir existieren? Ignorieren sie, was wir bereits als Kinder durchmachen mussten? Ignorieren sie die belastenden Situationen für junge Menschen in Wohneinrichtungen? Ignorieren sie unsere Bedürfnisse? Ignorieren sie, dass wir Teil der Gesellschaft sind?
Appell an die Kulturelle Bildung: Gegen die Ignoranz gegenüber Care-Leaver*innen
Meine Geschichte ist kein Einzelfall, sondern nur eine von vielen Erfahrungen von Care-Leaver*innen. Immer wieder meistern Care-Leaver*innen schwierige Herausforderungen und werden dennoch individuell, strukturell und institutionell diskriminiert. Weil von normativen Unterstützungssystemen in Familien ausgegangen wird, leiden oft gerade jene jungen Menschen, die solche Unterstützung nicht haben. Besonders in der Kindheit haben Care-Leaver*innen kaum Einfluss darauf, wie die eigene Familie oder der Staat ihre Situationen bestimmen.
So bleibt Kulturelle Bildung für viele Care-Leaver*innen nahezu unerreichbar, denn sie werden in den Angeboten nicht mitgedacht und somit von einer sozialen Teilhabe durch die Kulturelle Bildung ausgeschlossen. Das liegt auch daran, dass Kulturelle Bildung nach wie vor vor allem im schulischen Bereich stattfindet oder sich an Kinder und Jugendliche richtet, die bereits Teil der bestehenden Förderstrukturen sind und von diesen angesprochen werden.
Daher fordere ich sogenannte erwachsene Kulturelle Bildner*innen sowie die fördernden Institutionen auf: Fördert unsere Interessen! Fördert Projekte und Organisationen für und von Care-Leaver*innen! Behandelt uns wie Menschen und nicht als Spendenkampagne! Hört uns zu und bildet euch zu dem Thema! Baut Zugänge zur Teilhabe auf! Seid euch bewusst, welche Diskriminierungen wir erleben und reflektiert euren Adultismus! Gebt uns Freiheiten, unsere Gedanken und Meinungen zu äußern! Sprecht mit uns statt über uns! Redet weniger akademisch! Gebt uns Räume und Zeit!
Van-Lam (keine Pronomen/they/them) ist 26 Jahre alt, identifiziert sich als Deutsch-Vietnames*in, queer, able-bodied und von Klassismus betroffen. Van-Lam ist ein Careleaver*. Obwohl they ein FSJ Kultur und Bachelor in „Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis“ absolviert hat, musste they sich den Weg in der kulturellen Szene erkämpfen.
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