Adultismus und Schule: Die Macht der Erwachsenen über Schüler*innen

ergänzter Vortrag von Philip Meade

Copyrights: Feliphe Shiarolli

Schulen sind bis heute ein Ort, an dem junge Menschen einem Reglement unterworfen werden, das wenig Raum für ihre eigenen Interessen, Bedürfnisse und Sichtweisen lässt und in dem sie fast vollständig rechtlos sind. Der sogenannte Erwachsene Philip Meade (47 Jahre) fragt: Wie könnte es gelingen, die Macht der Erwachsenen über die Kinder in ein gleichwürdiges Bildungsverhältnis zu wandeln?

Ich „gestehe“: Ich bin 47 Jahre alt. Zu Beginn von Workshops, in denen ich das Thema Adultismus bearbeite, frage ich die Teilnehmenden gerne, wie alt sie sind. Manchmal lasse ich sie sich auf einer Skala von jung bis alt einordnen. Das löst oft Unbehagen aus. Erwachsene Menschen sind es nicht gewohnt, mit „Fremden“ über ihre Alter zu reden. Dabei wird jungen Menschen ständig diese Frage von „Fremden“ gestellt.

Wir erkunden danach das Gefühl, was es in uns auslöst, wenn wir nach unserem Alter gefragt werden. Dies ist ein guter Einstieg ins Thema Adultismus, weil er die generationale Ordnung in der Gesellschaft anspricht. Das bedeutet: die Aufteilung von Menschen in Gruppen anhand ihres Alters und die damit verbundene Hierarchisierung. Wir fragen uns dann: Wie viel sind „Kinder“, „Jugendliche“, „Erwachsene“ oder „alte Menschen“ wert, welchen Vorstellungen müssen sie entsprechen und unter welchen Druck geraten sie, wenn sie dies nicht tun?

Junge Menschen werden sehr schnell nach ihrer vermeintlichen Reife bewertet. Entweder entsprechen sie der Altersnorm oder sie unterliegen bzw. übertreffen die Erwartungen, die an sie gestellt werden. Schuld daran hat eine bestimmte Entwicklungsideologie, die Menschen einerseits als vollwertig und andererseits als werdend unterteilt. Im Juristischen heißt es ja „volljährige“ Erwachsene oder „minderjährige“ Kinder und Jugendliche.

Adultismus bezeichnet das grundlegende Machtungleichgewicht zwischen diesen Gruppen zum Vorteil der Älteren sowie die damit verbundene Diskriminierung von jungen Menschen – beziehungsweise als jung gelesene Menschen. „Kinder“ benutze ich in meinem Vortrag also synonym für Menschen, die dieser unterlegenen Kategorie zugeordnet werden, auch wenn sie vielleicht die „magische“ Altersgrenze von 18 Jahren überschritten haben.
 

Adultismus äußert sich in unserer Sprache

Gesellschaftliche Diskriminierungen werden auf einer zwischenmenschlichen Ebene erfahren und sind in der Kommunikation zwischen Erwachsenen und Kindern schnell zu erkennen. Die folgenden Beispiele adultistischer Redewendungen könnten einigen hier bekannt vorkommen.

  • Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt“ – Ein klassisches Beispiel dafür, wie Kindern Befehle erteilt werden.
  • Schämst du dich etwa nicht?“ – Beschämung ist eine Art psychischer Gewalt. Kinder erfahren aber heute, trotz ihres „Rechts auf gewaltfreie Erziehung“, weiterhin physische und psychische Gewalt.
  • Sei doch nicht so kindisch!” – Das, was Kinder sagen, denken, fühlen oder tun, wird nicht ernst genommen oder abgewertet.
  • Du bist so schlau für 15.“ – Schon wieder die Entwicklungsideologie: Kinder sind entweder „zu weit“ für ihr Alter oder „unterentwickelt“, anstatt als Individuen anerkannt zu werden.
  • Ich will doch nur dein Bestes.” – Kindern wird verwehrt, selbst zu beurteilen was ihnen gut oder schlecht tut. Sie sollen sich dem fügen, was Erwachsene für richtig halten.
  • Warte, bis du erwachsen bist.“ – Kinder stehen wegen ihrer vermeintlich minderen Intelligenz oder Kompetenz immer in der Schuld des Erwachsenen.

Mike Weimann von den ehemaligen KinderRÄchTsZÄnkern (KRÄTZÄ) hat adultistische Aussagen, die Kinder tagtäglich zu hören oder mitgeteilt bekommen, gesammelt und aufgeschrieben. Das daraus entstandene Poster gibt es in 19 Sprachen. Sie sind nicht einfach übersetzt worden, sondern Personen in den jeweiligen Ländern wurden gefragt, was Kindern dort tagtäglich widerfährt.

Auch das häufige Fragenstellen ohne echtes Interesse an einer ehrlichen Antwort – instrumentelle Fragen, Bumerang-Fragen oder Fragen, deren Antworten man bereits zu wissen glaubt – ist meines Erachtens adultistisch. Genauso die Verniedlichung und Infantilisierung von Kindern oder das Über-deren-Köpfe-hinweg-reden, ohne ihnen zu ermöglichen, sich ernsthaft an Diskussionen zu beteiligen. Adultismus funktioniert zwischenmenschlich aber auch ohne Wörter: Das ungefragte Anfassen, Abknuddeln, Küssen, Hochwerfen oder Bekitzeln junger Menschen kann adultistisch sein. Inzwischen haben sogar viele Kitas kapiert, dass das Wickeln gegen den Willen sehr junger Menschen grenzüberschreitend und somit adultistisch sein kann. Sie erproben Konzepte, die mehr auf die Zeiten und Bedürfnisse der Kinder eingehen.
 

Die Normen der Erwachsenen manifestieren sich im strukturellen Adultismus

Dieses Foto habe ich vor ein paar Jahren in Spandau gemacht. Darauf ist ein Schild an einem Garagentor zu sehen, auf dem steht: „Fußballspielen und Herumstehen in der Toreinfahrt ist wegen Belästigung der Mieter untersagt. Eltern haften für die Schäden ihrer Kinder.“ Das Schild im öffentlichen Raum zeigt, dass Adultismus nicht nur zwischenmenschlich und auf verbaler Ebene stattfindet, sondern auch ein gesellschaftliches Strukturprinzip ist. Die Spiele und Tätigkeiten junger Menschen werden abgewertet oder gar kriminalisiert. Wie zum Beispiel die Geschlechterordnung gibt es auch eine Altersordnung. Adultismus manifestiert sich strukturell in Werten, Normen, Bräuchen und Traditionen. Aber auch in Symbolen, Sprachen, Regeln und Gesetzen. Sogar in der Ökonomie. Gehen wir diese einmal einzeln durch und zeigen Beispiele auf:

Copyrights: Philip Meade (CC BY 2.0 Lizenz)
  • Bezüglich Werten wird bei Adultismus der Fokus auf Vernunft, Rationalität, Kompetenzen und Effizienz gelegt, die nur Erwachsenen vorbehalten zu sein scheinen.
  • Bei Normen sind das beispielsweise die Höhen von Türklinken, Regalen, Verkaufstresen oder dass die EU-Abgasnorm auf Erwachsenenhöhe gemessen wird, obwohl Kinder am meisten von Klimaungerechtigkeit betroffen sind. Dass Babys bis heute ein Geschlecht zugewiesen bekommen, trotz Verboten teilweise operativ, zählt auch dazu.
  • Bei Bräuchen und Traditionen denke ich sofort an Initiationsriten, die junge Menschen bestehen müssen, um Erwachsenenprivilegien zu erhalten. Oder an Märchen und Kinderbücher, in denen sich Kinder „unartig“ benehmen und dafür bestraft werden, wie der bis heute international viel gelesene „Struwwelpeter“.
  • Symbolischer Adultismus lässt sich beispielsweise daran erkennen, wie Klassenzimmer in der Schule gestaltet sind. Die Lehrperson steht meist frontal (früher sogar erhöht) zu den sitzenden Schüler*innen, die ihrerseits selten mitentscheiden können, wie die Sitzordnung angelegt ist.
  • Auf Ebene der Sprache gibt es etwa die Hierarchie vom Siezen nach oben und dem Duzen nach unten. Schüler*innen müssen die Lehrpersonen immer siezen, aber werden von ihnen ungefragt immer geduzt.
  • Regeln und Gesetze verstärken Adultismus zum Beispiel mit Ausgangssperren für Kinder und Jugendliche. Auch das Mindestwahlalter oder das Alter, ab dem man einen Vertrag unterschreiben darf, schließt Kinder per se von vielen Mitbestimmungsrechten aus.
  • Ökonomisch werden junge Menschen anhand von Kinderarbeitsschutzgesetzen vom Geldverdienen abgehalten und damit von vielen Bereichen der Selbstbestimmung ausgeschlossen. Dies geschieht, obwohl gesetzliche Verbote von den meisten jungen Menschen als restriktiv erlebt werden.
     

Ähnlich Adultismus: Autoritarismus, Ageismus, Patriarchat und Paternalismus

Ich möchte noch auf weitere, verwandte Begriffe eingehen, die einigen hier bekannt sein könnten. Sie ähneln zwar dem Adultismus, sind aber nicht dasselbe.

Autoritarismus: Ähnlich wie bei Adultismus gibt es bei Autoritarismus eine Top-Down-Hierarchie zwischen Menschen (oder Institutionen) von oben nach unten. Bei Adultismus bezieht diese sich jedoch spezifisch auf das Alter. Außerdem ist bei Adultismus keine bestimmte Autorität erforderlich: Der Adultismus kann sich auch in die Struktur oder Kultur eingebrannt haben und wirkt quasi „von selbst“.

Ageismus: Während Adultismus die Diskriminierung von Menschen auf Grundlage des jungen Alters ist, bedeutet Ageismus die Diskriminierung von Menschen auf Grundlage des hohen Alters. Auch letztere werden in vielen Bereichen von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen. Die „altersbedingte Diskriminierung“ dient wiederum als Oberbegriff, der die gesamte Altersskala in Augenschein nimmt.

Patriarchat ist, wenn cis-Männer oder Väter gegenüber nicht männlich positionierten Personen die Obermacht haben. Das hat viele Ähnlichkeiten mit Adultismus, zum Beispiel wenn es darum geht, dass Kinder (nicht) wählen dürfen. Es werden heute ähnliche Argumente wie früher bei Frauen* benutzt, um ihnen Partizipation und Teilhabe zu verwehren. Adultismus ist oft im Patriarchat begründet, basiert auf ihm und wird von ihm reproduziert, aber bei Adultismus geht es konkret um die Lebensphasen.

Paternalismus ist, wenn jemand vermeintlich im Interesse anderer handelt ohne diese in Entscheidungen einzubeziehen. Das kann auch in guter Absicht geschehen. Paternalismus ist meistens adultistisch, muss es aber nicht zwingend sein. Das klassische Beispiel: ein junges Kind läuft auf eine viel befahrene Straße. Was mache ich als Erwachsene*r? Ich greife spontan nach dem Kind und ziehe es zurück auf den Gehweg. Ich handele dann meistens dennoch im Interesse des Kindes und bespreche mit dem Kind, warum ich so reagierte. Meine Handlung wird erst dann adultistisch, wenn ich die machtasymmetrische Struktur nicht mit im Blick habe. Etwa weil Verkehrsregelungen und Städtebau adultistisch sind. Sie lassen sehr wenig Raum für Kinder und Jugendliche, sich frei zu bewegen.
 

Adultismus in pädagogischen Beziehungen

Für ein einführendes Stimmungsbild habe ich ein paar Fragen an euch mitgebracht. Ihr könnt euch selbst auf einer Skala von „stimme ich voll zu“, „stimme ich nicht zu“ oder irgendwo dazwischen positionieren:

  1. In meiner Schulzeit kannte ich mich mit Schüler*innenrechten gut aus?
    (In der Gruppe stimmt nur eine Person zu.)
  2. Schüler*innen haben heute vermehrt Leistungsdruck und Schulangst, vor allem nach der Corona-Pandemie.
    (Die meisten in der Gruppe stimmen zu.)
  3. Die Schüler*innenvertretung (SV)* und Beteiligungsmöglichkeiten an Schulen reichen heutzutage aus.
    (In der Gruppe meldet sich niemand.)
  4. Die Schulpflicht sollte abgeschafft werden.
    (Wenige stimmen dem ganz zu.)
Schüler*innenvertretung (SV)

Schüler*innenvertretung (SV)

Laut den Schulgesetzen ist eine Vertretung der Schüler*innenschaft (SV) vorgesehen. Sie soll aktiv an der Gestaltung ihrer Schule mitwirken und sich dabei mit anderen Schüler*innenvertretungen vernetzen können.

Das Stimmungsbild zeigt auf, dass die Schule bis heute kein Ort erlebter Demokratie ist. Dass der letzten Aussage nur wenige zustimmen, verwundert mich aber auch nicht, sie wird kontrovers diskutiert. Die Anschlussfrage wäre dann auch gleich, was statt der Schulpflicht käme? Wenn wir so bei einem Home-Schooling nach den Vorstellungen der Eltern landen, führt das nicht dazu, Adultismus zu vermeiden. Denn die Perspektiven, Bedürfnisse, Interessen und Forderungen junger Menschen liegen des Öfteren im Dissens mit denen älterer Menschen.

Adultismus spiegelt sich in pädagogischen Beziehungen wider, auch wenn sich diese mit der Zeit verändert haben und seit den 1970er Jahren vermeintlich liberaler geworden sind. Früher verfolgte man in der Pädagogik das Prinzip, physisch oder psychisch zu bestrafen. Heute funktioniert adultistische Gewalt auf einer sublimeren Ebene. Pädagogische Beziehungen und die damit verbundenen Interaktionen sind weithin in allen pädagogischen Institutionen machtasymmetrisch. Das heißt nicht, dass Kinder niemals Macht haben – teilweise wissen sie, wie sie sich verhalten müssen, um Macht zu erlangen – aber sie sind strukturell den Erwachsenen unterlegen. Denn während Kinder als erziehungsbedürftig gelten, sind die Erziehungsberechtigten stets erwachsen und setzen die Erziehungsziele.
 

Eine kurze Geschichte der Schule als Grundpfeiler des Adultismus

Mein Koautor Manfred Liebel und ich unterscheiden drei institutionelle Grundpfeiler, die den Adultismus aufrechterhalten und für ihre ständige Reproduktion sorgen: die bürgerliche Kernfamilie als Keimzelle des Adultismus, die Schule als Hort des Adultismus und Recht und Politik als Manifestation des Adultismus. Ich möchte mich hier auf die Schule konzentrieren.

Die Schule hat eine interessante, knapp sechstausendjährige Geschichte, weil ihr Fokus immer wieder gewechselt hat. In den sogenannten Hochkulturen Ägyptens, dem antiken Griechenland oder der römischen Republik waren es hauptsächlich Jungen aus der Oberschicht, die zur Schule gehen durften. Es gab viel Hausunterricht und eine sehr strenge körperliche „Züchtigung“ (ein Euphemismus für Gewalt). Dahinter lag die Grundidee, dass mit dieser Erziehung Erwachsene Kinder zu formen versuchten. Je nach gesellschaftlichen Prioritäten waren dies wettkampffähige Sportler, kriegstüchtige Kämpfer oder rhetorisch bewandte Beamte und Politiker. Im mittelalterlichen Europa war die Schule religiös geprägt, es gab viele Klosterakademien für Jungen und teilweise auch Mädchen, die fromme Mönche und Nonnen werden sollten. Im 19. Jahrhundert änderte sich das Bildungsideal hin zu einer Allgemeinbildung für alle. Spätestens mit der Weimarer Verfassung wurde 1919 die allgemeine Schulpflicht in ganz Deutschland eingeführt. Diese wurde aber erst anhand des Reichsschulpflichtgesetzes von 1938 rechtlich durchgeboxt. Darin wurde unter anderem festgelegt, dass diejenigen, die der Schule fernbleiben (sogenannte „Schulschwänzer“), morgens von der Polizei abgeholt werden. Das gilt bis heute und wurde in einigen mir bekannten Fällen auch praktiziert.

Bevor Schulen und später auch Kindergärten flächendeckend aufgebaut worden waren, nahmen Kinder an vielfältigen Tätigkeiten teil. Sie arbeiteten innerhalb und außerhalb des Haushaltes mit, trugen so zur Produktion und Reproduktion bei und erbrachten einen relevanten ökonomischen Beitrag für ihre Familien. Mit dem Aufkommen des europäisch-bürgerlichen Kindheitsideals im Kapitalismus des späten 18. Jahrhunderts wurde den meisten Kindern ein gesonderter Schutz, Schon- und Lernraum zugewiesen, mit dem Ziel, dass Kinder später tüchtige und produktive Arbeitskräfte werden. Kindheit wurde institutionalisiert. Der Philosoph Louis Althusser bezeichnete Schule als den heute herrschenden ideologischen Staatsapparat. Sie hat die Kirche abgelöst, Menschen auf gesellschaftliche Prinzipien „einzuschwören“ und Subjekte zu formen.
 

Wie sichern Erwachsene ihre Macht in der Schule?

Wir haben bereits vom erzwungenen Siezen und Duzen gesprochen. Es gibt noch weitere adultistische Prinzipien der Schule, beispielsweise die Isolation vom „echten“ Leben. Schule geht nicht vom Kind aus. Das heißt, die Lebenserfahrungen junger Menschen haben in der Schule wenig Bedeutung. Die Schule hat ein Monopol auf die Vermittlung von Wissen und die Vergabe von Auszeichnungen, Titeln und Berechtigungen. Die Schule bereitet junge Menschen auf die Arbeitswelt vor, indem sie ihnen Werte und Fähigkeiten vermittelt, auf die Arbeitgeber Wert legen. Es gibt eine sehr eingleisige Wissensvermittlung von oben nach unten. Die Erwachsenen erstellen den Lehrstoff und geben diesen an junge Menschen weiter. Hierzu möchte ich ein Zitat des Psychologen Klaus Holzkamp anbringen, das den Adultismus in der Wissensvermittlung veranschaulicht: „Der Schüler ist in der eigentlich entwürdigenden Situation, dem Lehrer laufend Sachen erzählen zu sollen, die der Lehrer schon weiß und ihn sozusagen systematisch zu langweilen. Der Zweck der ganzen Sache ist nur die Bewertung der Antworten der Schüler, aber nicht ihre inhaltliche zur Kenntnisnahme.

Schule übt außerdem durch die Sitzordnung Kontrolle aus, sodass Schüler*innen die Lehrenden anschauen müssen oder von ihnen dauernd beobachtet werden. Physische Bestrafungen, etwa in Form der früheren Rute, sind heute nicht mehr nötig, denn es gibt ja eine „unsichtbare Pädagogik“. Das heißt, dass Schüler*innen über Lob, Beschämung und Bewertung spüren, welches Verhalten von ihnen erwartet wird, ohne dass dies direkt angesprochen werden muss. Lehrpersonen üben nicht mehr reaktiv, sondern proaktiv Herrschaft aus. Ich habe schon erwähnt, dass heute die Formen der Kontrolle sehr viel subtiler sind: Es wird viel mehr mit Belohnung, mittels Methoden wie Ampel, Sternchen, Smileys oder Auszeichnungen gearbeitet. In der Lehrkräfteausbildung heißt diese Form der Führung und Kontrolle dann „Classroom-Management“. Die Hierarchie in der Schule wird weiterhin bewahrt.

Der Unterricht bleibt eine Konkurrenz- und Selektionsveranstaltung. Leistung findet immer im Vergleich zu anderen statt und ein Versagen ist für die Mehrheit der Schüler*innen vorprogrammiert. Durch das ständige Vergleichen der Schüler*innen miteinander, wird die Motivation der Schüler*innen verstärkt oder verringert, sodass sich die Lernabstände in zunehmenden Jahrgängen vergrößern und die Selektion bei Schulwechsel einfacher wird. Eine bestimmte, geringe Anzahl Schüler*innen muss stets gebildet und auf akademische Berufe bestens vorbereitet aus der Schule hervorgehen, eine weitaus größere Anzahl muss wiederum für die „einfacheren“ Berufe hergerichtet werden. Das Versagen einiger Schüler*innen wird dann auf angebliche Faulheit, Dummheit oder Unreife zurückgeführt und somit individualisiert.

Selbst wenn wir mehr in Bildung investieren, kommen wir um diese Prinzipien nicht herum. Auch die Abschaffung von Zeugnissen würde daran nichts ändern. Der interessante Fall der Lehrerin Sabine Czerny in Bayern, die ihren Schüler*innen vermeintlich zu gute Noten gegeben hat, zeigt auf, was passiert wenn das Selektionsprinzip übergangen wird: Die Lehrerin wurde wegen „Störung des Schulfriedens“ strafversetzt.

Die weit verbreitete Vorstellung von Chancengleichheit in der Schule bleibt ein Trugschluss. Zahlreiche Studien weltweit belegen immer wieder, dass der Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozioökonomischem Status beständig und erheblich ist.
 

Adultismus intersektional betrachtet

Das inzwischen gut erforschte Othering durch Lehrpersonen verstärkt die Bildungsungerechtigkeit in Schulen, indem sogenannte „bildungsferne“ Schüler*innen zusätzlich ausgegrenzt und ihnen Chancen vorenthalten werden. Othering bedeutet „zum Anderen machen“ und beschreibt die Markierung von Differenzen und die Distanzierung zu Menschen, die sich von der vermeintlich normativen sozialen Gruppe unterscheiden. Oft geschieht dies unbewusst und dient dazu, durch die Abgrenzung zu den „Fremden“ sich seines eigenen „Normalseins“ zu vergewissern.


Das Othering ist eine gute Einleitung zum Thema Intersektionalität. Fallbeispiel: Ein Lehrer gibt einer Schülerin eine Mathearbeit zurück und sagt, „Für ein Mädchen ist das eine ganz gute Mathearbeit“. An diesem Beispiel sehen wir, dass nicht alle Schüler*innen gleichermaßen von Diskriminierung betroffen sind, sondern weitere Kategorisierungen und Bewertungen stattfinden, etwa aufgrund von Geschlecht, die mit einer sexistischen Diskriminierung verflochten ist. Ähnlich erleben einige Schüler*innen Klassismus, wenn sie dafür beschämt werden, dass sie aufgrund familiärer Mitarbeit zu spät, hungrig oder übermüdet zur Schule kommen. Schüler*innen können Rassismus erfahren, wenn sie aufgrund ihrer vermeintlichen Herkunft oder Religion geothert werden und als Vorzeigeobjekt Fragen über diese Gruppen beantworten oder sich für sie rechtfertigen müssen. Oder sie erleben Ableismus, wenn junge Menschen, die einen Rollstuhl nutzen, aus vielen Regelschulen ausgeschlossen werden, weil es keine barrierefreien Eingänge oder Toiletten gibt. Dieses Zusammenwirken mehrerer Diskriminierungsachsen beschrieb zuerst die Juristin Kimberlé Crenshaw mit dem Begriff Intersektionalität. Solche verschränkten Bewertungs- und Abwertungspraxen betreffen ganze Gruppen und führen – beispielsweise wenn auch Politik und Medien Jugendliche aus Neukölln als „Paschas“ bezeichnen – zu Stigmatisierungen, die ein Eigenleben erhalten und Mehrfach-Diskriminierungsverhältnisse strukturell verfestigen.

Das Interessante an Adultismus ist, dass alle Menschen diese Diskriminierungsachse einmal erlebt haben. Das unterscheidet ihn von anderen Diskriminierungsachsen und trägt dazu bei, dass wir uns weniger darüber bewusst sind.  Die Aussicht, irgendwann den selbst erlebten Adultismus überwunden zu haben und mit Zugang zu bestimmten Ressourcen belohnt zu werden, wirkt als Katalysator, um sich „erwachsen“ zu verhalten – indem wir vermeintlich klüger, kompetenter und vernünftiger werden. Wir werden so in der Kindheit dazu konditioniert, Diskriminierungs- und ungleiche Machtverhältnisse als normal zu empfinden. Wir formen eine Welt mit, die in Kategorien von Über- und Unterordnung interpretiert wird und tragen zu etwas bei, was die Psychologin Birgit Rommelspacher als „Dominanzkultur“ umschrieb.
 

Bildtext: "Für’n Mädchen ne‘ ganz gute Mathearbeit…", Zeichnung und Copyrights: Natascha Welz
Die Partizipationsleiter nach Arnstein (1969) und Hart (1992), nachgezeichnet von Philip Meade

Schüler*innenvertretungen ersteigen die Leiter der Partizipation

Um diesen Vortrag mit einer positiven Note zu enden, gehe ich auf die Partizipation von jungen Menschen in Schulen ein. Das ist zwar vielleicht kein revolutionärer, aber dafür ein reformerischer Ausweg aus dem Dilemma ungleicher Machtverhältnisse an Schulen. Es gab zwar in der Vergangenheit und noch immer heute einige Versuche, die Schule von Grund auf zu verändern und ein gleichwürdiges Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern zu etablieren. Zu erwähnen wären die vielen Alternativschulkonzepte, wie Summerhill, Freinet, Sudbury Valley oder Highlander. Aber sie bleiben ein Nischenprodukt, das vergleichsweise wenige junge Menschen besuchen.

Die Partizipationsleiter nach der Politikwissenschaftlerin Sherry R. Arnstein (1969) und dem Kindheitswissenschaftler Roger Hart (1992) benennt acht Stufen der Kinder- und Jugendpartizipation. Sie kann dazu eingesetzt werden, um aufzuzeigen, wieviel Macht jungen Menschen im Schulsystem zugestanden wird beziehungsweise sie selbst erlangen. Die unteren drei Stufen bilden Manipulation, Dekoration und Alibi-Partizipation, die keine echten Partizipationsstufen darstellen. Bei ihnen wird bloß nach außen suggeriert, als ob es um Beteiligung geht, ohne dass Kinder wirklich etwas zu sagen haben. Zum Beispiel wenn Schulangebote für Kinder und Jugendliche von Erwachsenen vorkonzipiert sind und keinen offenen Ausgang haben. Auf den mittleren drei Stufen der Leiter geht es damit weiter, dass junge Menschen zumindest Informationen erhalten, bis hin zu einer Mitsprache, bei der Kinder immerhin von Erwachsenen angehört werden. Von Mitbestimmung können wir aber erst dann sprechen, wenn ihre Ansichten, Meinungen und Interessen ernst genommen werden und bei Entscheidungsprozessen wesentliche Berücksichtigung finden. Bei den beiden oberen Stufen der Leiter können Kinder selbst bestimmen oder geben die Richtung an und werden von Erwachsenen in ihren Vorhaben gar unterstützt. Theoretisch könnten Schüler*innenvertretungen hier oben einen Platz einnehmen, wenn Erwachsene ermöglichen würden, dass Schüler*innen selbst etwas organisieren und durchführen.

Doch davon sind wir weit entfernt. Sehr viele Schüler*innen kennen ihre Mitbestimmungsrechte nicht einmal. Dabei garantiert das Schulgesetz Berlin Schüler*innen in § 46 Mitbestimmung bei der Unterrichtsgestaltung (Lehrstoffauswahl, Schwerpunkte, Reihenfolge, Unterrichtsformen) und bei schulischen Veranstaltungen. In § 47 steht geschrieben, dass Schüler*innen zu allen wichtigen Schulangelegenheiten und Mitwirkungsmöglichkeiten informiert und beraten werden sollten. Laut § 48 gilt die Meinungs- und Pressefreiheit (z.B. unzensierte Schüler*innenzeitungen) auch in der Schule. Anhand der Vereinigungsfreiheit für Schüler*innengruppen in § 49 dürfen Schüler*innen auch demonstrieren. In den Paragrafen § 77, § 81, § 82, § 84, § 85, § 110 und § 114 werden die Gremienteilnahmen und Vernetzungsmöglichkeiten der Klassensprecher*innen und Gesamtschüler*innenvertretungen, des Bezirksschüler*innenausschusses und Landesschüler*innenausschusses garantiert. Seit August 2022 haben Schüler*innen laut § 84a sogar bereits ab der ersten Klassenstufe Anspruch auf einen Klassenrat. Dieser kann als basisdemokratisches Modell verstanden und umgesetzt werden, vorausgesetzt er wird von den Lehrpersonen nicht als Ort missbraucht, um bloß Konflikte zu lösen, um Schulstoff nachzuholen, für den sie im Unterricht keine Zeit hatten, oder um etwas durchzuboxen, was die Lehrkräfte wollen und nicht die Schüler*innen. Das SV-Bildungswerk und die Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik bieten hierfür Steilvorlagen an.

Doch wie oft werden all diese Rechte tatsächlich in Anspruch genommen? Einerseits zeigt die Geschichte, dass Veränderungen am ehesten angestoßen werden, wenn Schüler*innen sich in kollektiver Weise wehren und ihre Rechte einfordern. Andererseits stehen die Erwachsenen, insbesondere die Lehrpersonen und das pädagogische Fachpersonal in der Verantwortung, ihre eigenen Privilegien zu reflektieren und ihre Macht mit Schüler*innen zu teilen. Eine adultismuskritische Haltung zeigt sich dann, wenn sie sich ein professionelles Selbstverständnis aneignen, das den jungen Menschen ermöglicht, sich selbst zu ermächtigen (empowern) und die Barrieren zwischen einzelnen Schüler*innengruppen abzubauen. Vielleicht begreifen sich die Erwachsenen an Schulen dann eher als Begleiter*innen, Ermöglicher*innen oder Verbündete?


Philip Meade arbeitet freiberuflich theoretisch wie praktisch zu Kinderrechten. Er brachte als Koautor zusammen mit Manfred Liebel das Fachbuch „Adultismus. Die Macht der Erwachsenen über die Kinder“ heraus sowie eine kurze, illustrierte Version derselben für junge Menschen. Zur Website