K(l)assensturz: Ein Abend über Klassismus im Kulturbetrieb
Mit Redebeiträgen darüber, wie Klassenverhältnisse aufgebrochen und Ressourcen im Kulturbereich gerechter verteilt werden können
Mit Redebeiträgen, die sich der Frage widmen, wie Klassenverhältnisse aufgebrochen und Ressourcen im Kulturbereich gerechter verteilt werden können.
Der Kulturbereich ist prekär und unterfinanziert, doch das gilt nicht für alle gleichermaßen. Wer kann eine Karriere im Kulturbereich machen und sich darin behaupten? Es braucht mehr Wissen darüber, wie Menschen aufgrund von Klassenverhältnissen diskriminiert und aufgrund der sozialen Herkunft bzw. der sozialen und ökonomischen Position vom Kulturbetrieb ausgeschlossen werden. Genauso braucht es Wissen darüber, was man gegen Klassismus im Kulturbetrieb tun kann. Empowernde Ansätze kommen vor allem von marginalisierten Künstler*innen selbst. Diesen Perspektiven widmet sich das Dossier „Kunst kommt von Können?! - Klassismus im Kulturbetrieb“, dessen Herausgabe in Druckversion Anlass für die Veranstaltung bot.
Diversity Arts Culture und kultur_formen, Projektbereiche der Stiftung für Kulturelle Weiterbildung und Kulturberatung, luden in Kooperation mit der Berlinischen Galerie zur Veranstaltung „K(l)assensturz – Ein Abend über Ausschlüsse und soziale Herkunft im Kulturbetrieb“ am 29. Juni 2023 ein.
Den ganzen Abend sowie die einzelnen Beiträge gibt es nun als Mitschnitt zu hören und zu lesen. Nach den Begrüßungen und einer inhaltlichen Einführung durch die Moderation Maja Bogojević widmen sich die drei Redebeiträge von Gürsoy Doğtaş, Petja Dimitrova und Bahar Meriç, DOore tOx Antrie und Silke Ballath der Frage, wie Klassenverhältnisse aus mehrfach marginalisierten Perspektiven historisch aufgearbeitet, aufgebrochen und aktiv entgegengetreten werden können.
Die drei Vorträge sind außerdem als Beiträge im Dossier Kunst kommt von Können?!“ - Klassismus im Kulturbetrieb nachzuhören und -lesen.
Zum Nachhören:
Zum Nachlesen:
Begrüßung
Christine van Haaren (Berlinische Galerie): Herzlich Willkommen in der Berlinischen Galerie. Ich heiße Christine van Haaren und leite den Bereich Bildung und Outreach. Ich möchte mich ganz kurz selbst beschreiben: Ich bin weiß positioniert, circa 1,65m groß. Ich habe mittelblonde Haare, die ich heute hinten in meinem Nacken zusammengesteckt habe. Ich trage ein blaues Oberteil und eine dunkelblaue Hose.
Die Berlinische Galerie umfasst Gemälde, Skulpturen, Fotografien - wir haben es hier also mit einer klassischen Kunstinstitution, mit einer Regelfinanzierung über das Land Berlin, zu tun. Im letzten Jahr hat eine Projektgruppe der nGbK, der neuen Gesellschaft für bildende Kunst, die als Verein organisiert ist, hier eine Ausstellung gemacht, in der es um die Produktionsbedingungen im Feld der Kunst ging. Ihnen ging es darum, den Widerspruch zwischen oft prekären Arbeitsverhältnissen im Bereich der Kunst und einem schillernden Kunstbetrieb aufzuzeigen, wo es um große Geldsummen und fancy Galerie-Dinner geht.
Bis zu dieser Ausstellung fielen die Begriffe Klassismus oder Klasse selten bis nie in der Berlinischen Galerie, abgesehen von wenigen Ausnahmen. Dabei sind diese Themen hier überall präsent und Klassismus findet statt. Hauptsächlich ist dies Personen bewusst, die aus guten Gründen nicht hierherkommen wollen, nicht hierherkommen können oder nicht in Runden vertreten sind aufgrund der Tatsache, dass sie für ausgegliederte, sogenannte Servicegesellschaften freiberuflich arbeiten oder auch einfach nicht gehört werden.
Aus meiner Sicht braucht es daher einen Wissensaufbau in Institutionen zu Themen wie: Was ist eigentlich Klassismus? Wer erlebt ihn, wie? Wie wirkt er mit anderen Formen von Diskriminierung zusammen? Welchen Widerstand gibt es dagegen und inwiefern tragen Institutionen wie die Berlinische Galerie dazu bei, dass Klassismus immer wieder reproduziert und fortgeschrieben wird?
Wenn man in unsere Dauerausstellung guckt, finden sich verschiedene Beispiele von Künstler*innen, die mit besten sozialkritischen Absichten sogenannte arme Leute und ihre Situation gemalt oder auch fotografiert haben. Manchmal, weil es ihr eigenes Umfeld war, häufig aber auch nicht. Worum geht es in diesen Bildern? Was heißt es eigentlich, wenn sie an einem Ort wie der Berlinischen Galerie gegen Eintrittsgeld gezeigt werden? Wer schaut sie sich mit welchem Ziel an? Wie werden sie besprochen und eingeordnet?
Für uns im Bereich Bildung stellt sich immer wieder die Frage beziehungsweise auch die Herausforderung, wie wir mit Gruppen arbeiten können, wie wir diese Narrativen, die vom Museum geschrieben werden, benennen können, wie wir sie hinterfragen können, wie wir sie kritisieren können, um auch Alternativen, andere Erzählungen, zu entwickeln und sichtbar zu machen.
Auf der materiellen Ebene geht es auch immer wieder für uns im Bereich Bildung um Forderungen für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, da das Feld der Kunstvermittlung auch durch Prekarität geprägt ist und auch im Vergleich zu anderen Bereichen des Museums dort weniger Ressourcen zur Verfügung stehen. Für uns verbindet sich damit auch die Frage, wie wir diese Forderung auch mit denen von anderen Gruppen verbinden können?
Für all diese Themen und Aspekte, die uns nicht erst seit dieser Ausstellung im letzten Jahr, sondern auch zuvor, beschäftigen, ist das Dossier „Kunst kommt von Können“ eine extrem wichtige Ressource, um dazu zu arbeiten. Das Dossier wird von kultur_formen und Diversity Arts Culture (DAC) herausgegeben und es freut mich wirklich total, dass die Macher*innen sehr schnell bereit waren, eine Veranstaltung heute Abend hier bei uns in der Berlinischen Galerie zu machen.
Meine Hoffnung ist damit verbunden, dass so zumindest heute Abend mehr über Klassismus in der Berlinischen Galerie gesprochen wird und dass so auch Themen in einer klassischen Kulturinstitution verhandelt werden, die sonst hier gar nicht so stattfinden.
Lisa Scheibner (Diversity Arts Culture): Ich bin Lisa Scheibner und ich stehe hier gemeinsam mit Justine und Bahareh. Ich beschreibe mich auch kurz: Ich bin eher klein, ich bin weiß, weiblich gelesen, ich habe kürzere, mittelblonde Haare und trage ein Kleid, das oben gestreift und unten dunkelblau ist. Ich arbeite bei Diversity Arts Culture und verantworte dort den Bereich Diversitätskompetenz.
Die Vorgeschichte zur heutigen Veranstaltung ist unser Dossier, das Diversity Arts Culture gemeinsam mit kultur_formen im Jahr 2022 herausgegeben hat: „Kunst kommt von Können. Klassismus im Kulturbetrieb“. Dies liegt seit Juli 2023 auch in gedruckter Form vor.
Wir haben für das Dossier aus 140 Einreichungen 11 Beiträge ausgewählt, die aus verschiedenen Perspektiven das Thema Klassismus im Kulturbetrieb beleuchten. Da geht es unter anderem darum, inwiefern „hochkulturelle“ Konzepte an sich schon klassistische Ausschlüsse produzieren, weil sie unter anderem genau dafür entwickelt wurden, genauso wie die dazugehörigen Codes und Verhaltensweisen. Uns war es auch wichtig, eine Diskussion darüber anzustoßen, wo sich Klassenverhältnisse und -erfahrungen im Kulturbetrieb zeigen - ein Bereich, in dem prekäre Arbeitsverhältnisse ja eher die Regel als die Ausnahme sind. Aber prekär ist nicht gleich prekär: Denn wer hat welche Zugänge zu einer Professionalisierung im künstlerischen Feld und kann trotz unsicheren Einkommens über eine längere Zeit im Kulturbereich arbeiten und auch die eigene Arbeit weiterentwickeln, weil sich eventuell noch Sicherheiten im Hintergrund befinden oder eben nicht? ‚Habe ich genügend Privilegien, um mir dieses Risiko zu leisten?‘ Auch symbolische Hierarchien spielen eine große Rolle: Welche Berufe werden anerkannt und gewürdigt als Beitrag zur Kunst und welche Teile der Arbeit in Kulturinstitutionen, zum Beispiel die der Reinigungskräfte oder des Aufsichtspersonals, werden bei externen Dienstleistern bestellt, um Geld zu sparen? Und welche Ausbeutungsverhältnisse können damit gegebenenfalls in Verbindung stehen?
Für uns hat sich gezeigt, dass viele Facetten des Themas Klassismus noch kaum diskutiert werden. Zum Beispiel, welche Rolle die Erfahrung von Mehrfachdiskriminierung im Kulturbetrieb spielt oder wie eine solidarische Praxis eigentlich aussehen könnte. Die Diskussionen über Klassismus im Kulturbetrieb können und sollten noch viel weiter gehen und müssen noch mehr Perspektiven sichtbar werden lassen, insbesondere auch solche von Künstler*innen und Kulturarbeiter*innen, die intersektionale Diskriminierungserfahrungen machen. Wir arbeiten daran alle weiter und Sie hoffentlich auch. Und damit übergebe ich an meine Kollegin Justine.
Justine Donner (kultur_formen): Mein Name ist Justine Donner. Ich bin auch nicht besonders groß, habe mittelblondes, schulterlanges Haar, bin weiß gelesen, habe keine sichtbare Behinderung und habe ein braunes Hemd und einen dunkelbraunen Rock an. Ich arbeite bei kultur_formen, wo wir uns dem Bereich der kulturellen Praxis mit jungen Menschen widmen, vor allem durch Förderung und Qualifizierungen von Projektmachenden. Ich verantworte dort den Bereich Redaktion und Programm.
Dass wir gemeinsam mit Diversity Arts Culture dieses Dossier veröffentlicht haben, liegt daran, dass über Ausschlüsse und Zugänge bereits von Kindheit an entschieden wird. Es war uns daher ein Anliegen, das Thema Klassismus nicht nur geschichtlich von verschiedenen Perspektiven und Diskriminierungsdimensionen zu beleuchten, sondern auch möglichst von allen Lebensphasen aus.
Für das Feld der kulturellen Bildung ist es wichtig zu erwähnen, dass sie im klassischen Sinne ein bildungsbürgerliches und koloniales Konstrukt ist. Auch noch heute geht es oft darum, vermeintlich kulturfernen und marginalisierten Kindern und Jugendlichen Kunst näher zu bringen. Dabei geht es meist nur darum, den eigenen Kanon zu legitimieren und die eigene Praxis gar nicht anzupassen. Was kann also eine Klassismussensible kulturelle Bildung sein und welche langfristigen Perspektiven kann sie bieten - insbesondere, wenn man in dieser die Selbstverpflichtung oder den Grundsatz, auf Augenhöhe zu arbeiten und die Lebensrealität junger Menschen mitzudenken, versucht? Was ist Sinn und Zweck von kultureller Bildung? Geht es darum, künftiges Publikum zu akquirieren oder kann es auch darum gehen, eben jene Zugänge zur eigenen Praxis zu schaffen?
Bahareh Sharifi (Diversity Arts Culture): Ich bin Bahareh Sharifi. Ich bin mehr oder weniger gleich groß wie meine Kolleginnen, wobei ich uns gar nicht so klein finde. Ich werde nicht weiß gelesen, habe braungefärbte Haare und trage einen Zopf, Kinnkurze Haare und ein Pony. Ich trage ein pinkes Shirt und eine grüne Hose mit Punkten. Ich bin die Programmleitung von Diversity Arts Culture.
Es war uns für die Veranstaltung wichtig, weitere Perspektiven einzuladen, die bis jetzt im Dossier noch nicht auftauchen. Mit dem Titel des heutigen Abends, dem kleinen Wortspiel aus ‚Klassensturz‘ und ‚Kassensturz‘ wollten wir ein Spannungsverhältnis aufmachen: Zum einen geht es um die Frage, wie Ressourcen im Kulturbetrieb oder im Feld des Künstlerischen und Kulturellen verteilt werden und zum anderen, wie Klassenverhältnisse im Kulturbetrieb intersektional zu betrachten sind.
Der Begriff „Kassensturz“ kann als Abrechnung verstanden werden, als eine Art Bilanzziehung zu den vermeintlichen Öffnungsprozessen, die es im Kulturbetrieb gibt, die aber letzten Endes oftmals dazu führen, dass Ausschlüsse entlang von Klassenpolitiken weiterhin aufrechterhalten werden.
Eine kleine Zeitreise in die 1970er Jahre: Zu dem Zeitpunkt fanden Forderungen nach kultureller Teilhabe und Gerechtigkeit als Protest der Demokratisierung unter dem Motto ‚Kultur für alle‘ Eingang in die Kulturpolitik sowie Kultur- und Kunstförderung. Dabei wurden neue Begriffe geschaffen oder teilweise übernommen, zum Beispiel ‚Soziokultur‘ oder ‚kulturelle Bildung‘. Diese vermochten jedoch nicht – und das schreibt sich bis heute fort – das hochkulturelle Verständnis im Kern in Frage zu stellen.
Hauptproduzent kultureller und künstlerischer Erzeugnisse und damit Hauptadressat der Ressourcenverteilung war und ist bis heute weiterhin die bildungsbürgerliche Klasse. Zudem wurden sozioökonomische Benachteiligungen nicht im Zusammenwirken mit weiteren Diskriminierungsdimensionen betrachtet, wie zum Beispiel Rassismus oder Behinderung. Oftmals fand auch eine Naturalisierung statt, wenn Communities, die von Mehrfachdiskriminierung betroffen waren, eine Kulturferne oder Kulturlosigkeit zugeschrieben wurden.
Dabei waren marginalisierte Communities auch immer künstlerisch tätig und haben ihre Mehrfachdiskriminierung zum Thema gemacht. Kämpfe von Arbeiter*innen sind dem Diskurs um Klassismus vorangegangen. Kämpfe, die nicht nur für die Verbesserung der eigenen Arbeitsbedingungen, sondern auch grundsätzliche Veränderungen erwirkten, wie zum Beispiel die 5-Tage-Woche oder den 8-Stunden-Tag.
Allem voran sind dabei die Kämpfe von migrantischen und rassifizierten Arbeiter*innen zu nennen, die durch ihre prekären Aufenthaltsbedingungen und den Entsagungen von staatsbürgerlichen Rechten im Vergleich zu ihren Arbeitskolleg*innen weit gravierendere Arbeitsbedingungen und viel schlechtere Entlohnung vorfanden. Mit ihren Widerständen und Kämpfen setzten sie sich für die Sichtbarmachung der Intersektion von Klasse und Rassismus und im Fall von feministischen Kämpfen im Arbeitskontext auch für die Intersektion von Klasse, Rassismus und Geschlecht ein.
Kontext Klassismus
Maja Bogojević (Moderation): Ich bin Maja. Ich habe lange, braune Haare, trage Hoop-Ohrringe, eine Goldkette und eine Kette, auf der ‚Aquarius‘ steht. Ich werde voll oft als migrantisierte Person gelesen und trage eine lila Hose und ein weißes Oberteil.
Bevor wir uns die Inputs anhören, will ich kurz die Veranstaltung kontextualisieren, weil der Begriff Klassismus oft gefallen ist. Es gibt viele Definitionen dieses Begriffs. Unter ihm finden sich viele Strömungen und auch verschiedene Herangehensweisen an das Thema Klassismus. So gibt es Leute, die das Ganze eher ökonomisch betrachten und schauen, was es für Ausgrenzungsmechanismen gibt, die mit klassistischer Diskriminierung und Unterdrückung zu tun haben. Dann gibt es Leute, die sich anschauen, was Klassismus mit Menschen macht, wozu Ausgrenzung und Marginalisierung führen und was Klassismus mit anderen Erfahrungen intersektional zu tun hat.
Wenn ein Kind ohne Schulbrote in die Schule kommt, können wir uns einerseits anschauen, was für ökonomische Ungleichheiten und Ausbeutungsverhältnisse dazu führen, dass dieses Kind kein Brot in der Schule mithat. Aber wir können uns auch anschauen, wie wir gegen die Diskriminierung vorgehen können, die dieses Kind in der Schule erfährt – durch Lehrer*innen, durch Eltern, durch andere Schüler*innen – und was das mit Schüler*innen in ihren Schullaufbahnen macht?
Die drei ausgewählten Beiträge zeigen die Bandbreite von Klassismus im Kulturbetrieb und was für klassistische Narrativen in der Gesellschaft stattfinden. Da das Ganze nicht in einem luftleeren Raum stattfindet, müssen wir uns natürlich auch fragen: Wer reinigt hier die Gebäude und für welchen Lohn? Wer wird aufgrund welchen Ausbeutungsniveaus unterbezahlt? Unter welchen ökonomischen Entlohnungs- und Prekaritätsverhältnissen wird Kunst überhaupt produziert? Aber natürlich auch, welche stereotypisierenden und diskriminierenden Darstellungen von Obdach- und Wohnungslosigkeit in unserer Gesellschaft existieren und wie diese medial reproduziert werden etc.?
Ich arbeite seit 10 Jahren zu diesen Themen und merke, dass gerade viel passiert. Gleichzeitig mache ich auch die Beobachtung, dass bestimmte Perspektiven ausgeschlossen werden und so ein eindimensionales Verständnis von Klassismus existiert. Umso wichtiger ist es, dass wir verschiedene Expert*innen und Impulsgeber*innen hören.
Am Anfang habe ich ja darüber gesprochen, wieso es wichtig ist, ökonomische Ungleichheiten zu betrachten, wenn wir über Klassismus sprechen. Gleichzeitig beobachten wir, dass es nicht so viele Daten zu den ganzen Themen gibt, also wir nicht in jeder Situation die perfekte Datenlage hernehmen können, um unsere Argumente zu stützen. Aber es gibt zu manchen Gegebenheiten genau diese Daten und wenn wir uns die Geschichte anschauen, haben wir Daten zu sogenannten Gastarbeiter*innen und zu den ökonomischen Ungleichheiten, wenn wir uns die Rentenverhältnisse von Gastarbeiter*innen und Nichtgastarbeiter*innen anschauen.
Jutta Höhne vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut hat herausgefunden, dass nichtgastarbeitende Männer in Deutschland 1.109 Euro Rente bekommen und nichtgastarbeitende Frauen 789 Euro. Wenn wir uns die Gastarbeiter*innen anschauen, bekommen männliche Gastarbeiter im Durchschnitt 572 Euro Rente und Gastarbeiterinnen 427 Euro. Also wir sehen, dass diese Linien sowohl auf rassismuskritischer als auch sexismuskritischer Ebene betrachtet werden müssen. Genauso zeigen diese Rentenverhältnisse, dass ökonomische Ungleichheiten nicht nur etwas mit meiner jetzigen Position, sondern auch mit Altersarmut, zu tun haben: Wer kann sich was für eine Wohnung leisten, wenn sie in Rente sind, und was bedeutet das auch für die Generationen nach uns?
Gürsoy Doğtaş hat sich auch mit dieser Thematik auseinandergesetzt beziehungsweise mit Gastarbeitenden Personen in Deutschland. Er ist Kunsthistoriker und -kritiker und arbeitet an den Schnittpunkten von Institutionskritik, strukturellem Rassismus und Queer Studies. Er hat an der LMU München promoviert und viele Ausstellungen kuratiert. Er ist momentan Gastprofessor am Institut für Kunst und Kontext an der UDK und hat ebenfalls einen Artikel geschrieben mit dem Titel „Ungleichheiten innerhalb der Arbeiter*innenklasse“.
Inputs
Beitrag 1: „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“
Über Ungleichheiten innerhalb der Arbeiter*innenklasse der sogenannten türkischen Gastarbeiter*innen und ihre Ausstellung von 1975. Zum Hören und Lesen.
Gürsoy Doğtaş:
Hallo zusammen, vielen Dank für die Einladung. Mein Look macht meine Klasse und Herkunft nicht lesbar. Ich trage ein schwarzes graues Hemd, eine schwarze Hose, bordeauxfarbene Lederschuhe, meine Pronomen sind er/ihn, ich trage eine Brille. Nach dem Hamilton-Norwood-Schema ist mein androgenetischer Haarausfall ziemlich fortgeschritten. Ich trage meine Haare sehr kurz.
Die Ausstellung „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“ von 1975 ist außergewöhnlich: Sie ist ein wichtiges Beispiel für kulturelle Selbstorganisation von Migrant*innen aus der Türkei.
Ich habe die Folie gewechselt. Das Bild ist ein Foto aus einem Stadtumfeld, in dem das Poster der Ausstellung als Plakataufsteller an einen Baum gelehnt zu sehen ist. Das Foto ist schwarzweiß.
Die Ausstellung findet im Rahmen der 25. Berliner Festwochen am Mariannenplatz in den Räumen des Kunstraums Kreuzberg statt. Sie läuft vom 5. September 1975 bis zum 31. Januar 1976. Sie ist begleitet von vielen Veranstaltungen. Hierzu zählen Konzerte, Tanz, aber auch ein Kinderzirkus und Ringkämpfe.
Der Ausstellungskatalog lässt sich heute zwar nicht in den Beständen der großen kunsthistorischen Bibliotheken - wie dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte, dem Deutschen Forum für Kunstgeschichte oder der Bibliotheca Hertziana - finden, aber in ihrer Zeit erfuhr sie eine große mediale Resonanz.
Ich habe die Folie gewechselt. Man sieht einen Screenshot von der Seite der New York Times. Auf dieser sieht man eine Zeitungsseite und etwas weiß hervorgehoben ist ein Artikel.
Die Ausstellung wird am 14. Oktober 1975 in der New York Times rezensiert. Die Zeitung lässt die Besprechung der Berliner Festwochen mit der Ausstellung beginnen. Für den Journalisten Craig Whitney vollbrachte die Ausstellung ein kleines Wunder, „has managed to bring off a small miracle“, weil sie - so meine Zusammenfassung und sprachliche Anpassung - die Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei und die weißen West-Berliner*innen über die Kultur zusammenführte. Whitney stellt fest, dass Migrant*innen aus der Türkei die Mehrheit der Ausländer*innen in Kreuzberg darstellen und dass sie benachteiligt sind. Sie zahlen höhere Mieten, aber verdienen weniger als ihre deutschen Nachbar*innen. „Sie fühlen sich hier isoliert und unerwünscht, getrieben von der drückenden Armut in ihrem eigenen Land, die sie zu ihren Jobs und zu einer fremden Lebensweise treibt“, so die Zusammenfassung von Whitney [übersetzt von Doğtaş].
Seine Empathie vermischt sich mit Stigmatisierung: Das Viertel um den Mariannenplatz ist für ihn ein türkisches Ghetto, er schreibt: „Um die Ausstellung in einem alten Krankenhaus am Mariannenplatz zu besuchen, muss das Publikum von der Hochbahn oder der U-Bahn aus durch den dichtesten Teil des türkischen Ghettos in Berlin laufen.“
Ich wechsle die Folie. Man sieht das Cover des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, Nr. 31 vom 29.07.1973. Auf diesem ist eine Familie zu sehen, mit Kleinkindern im Fenster, die als Türkisch gelesen werden. Auf dem Cover steht: „Ghettos in Deutschland, eine Million Türken“.
Der Begriff „Ghettos“ kursiert schon einige Jahre zuvor in den deutschen Medien. In der Titelgeschichte „Die Türken kommen. Rette sich wer kann“ des Spiegels von Juli 1973 heißt es gleich im Teaser: „Städte wie Berlin, München oder Frankfurt können die Invasion kaum noch bewältigen. Es entstehen Ghettos und schon prophezeien Soziologen Städteverfall, Kriminalität und soziale Veränderungen wie im Harlem.“
Craig versteht die Au sstellung „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“ als eine kulturelle Erneuerung. Auch im Hinblick auf Klassenfragen ist die Ausstellung sehr aufschlussreich. Sie führt nicht nur - wie die New York Times schreibt - die Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei und die weißen Westberliner*innen über die Kultur zusammen, sondern zeigt auch Differenzen auf: Di e Arbeitsmigrant*innen sind gegenüber den deutschen Arbeiter*innen benachteiligt.
Der türkische Akademiker- und Künstlerverein erläutert dies im Vorwort des Ausstellungskatalogs wie folgt: „Wenn wir uns mit den Problemen realistisch befassen wollen, werden wir zu der Erkenntnis kommen, dass der türkische Arbeiter in keinem Bereich des gesellschaftlichen Lebens als vollwertig angesehen ist und diesem soziale Rechte versagt werden. In diesem Zusammenhang muss vor allem erwähnt werden, die Beschränkungen der Versammlungsfreiheit und der Freiheit, Vereine zu bilden, sowie die Tatsache, dass der türkische Arbeiter nicht als Sozialempfänger dastehen darf, mit der Begründung, dass er dem Staat nicht zur Last fallen darf. Sofern der türkische Arbeiter für seine demokratischen Rechte und Forderungen kämpfen will, wird er mit Entlassung bedroht und schließlich ausgewiesen. Der türkische Arbeiter, der in gleicher Höhe wie der deutsche Arbeiter Steuern zahlt, bekommt zum einen, um ein Beispiel zu nennen, weniger Kindergeld als sein deutscher Kollege. Obwohl er das Kulturleben der Stadt mitfinanziert, werden ihm keine vernünftigen Möglichkeiten für die Freizeitgestaltung angeboten.“
Die Forderung der Ausstellung „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“ für gleiche soziale und demokratische Rechte ist auch eine Reaktion darauf, dass die Arbeitsmigrant*innen in ihren Kämpfen von ihren deutschen Kolleg*innen allein gelassen worden sind.
Ich habe die Folie gewechselt. Zu sehen ist ein Schwarzweißfoto, im Vordergrund steht ein Mann mit einem Megafon, im Hintergrund stehen weitere Männer mit einem Protestbanner, es zeigt eine Protestsituation, einen Streik.
Wie im August 1973 bei den Streiks in den Ford-Werken in Köln Niehl: Die etwa 12.000 Arbeiter aus der Türkei solidarisieren sich mit Arbeiter*innen, die verspätet aus den vierwöchigen Werksferien zurückkamen. Erst entzog die Gewerkschaft und der Betriebsrat der Ford Werke dem Streik die Legitimation, dann wurde die Polizei gerufen, die auf dem Werkgelände die Mitglieder des Streikkomitees verhaftete. Zudem organisierten die deutschen Arbeiter*innen eine Gegendemonstration zu dem Streik und riefen: „Wir wollen arbeiten!“
Ich wechsle die Folie. Zu sehen ist erneut ein Protestbild in schwarzweiß. Dieses Mal sind es Frauen.
Der Streik beim Automobilzulieferer Pierburg im Juni und August 1973 richtet sich gegen die Leichtlohngruppe 2, eine Lohnkategorie, die den Einkommensunterschied zwischen den Geschlechtern rechtfertigte. Die Frauen verdienten 4,70 Mark pro Stunde und die Männer 6,10 Mark für dieselbe Tätigkeit. Der Streik ging von den Arbeitsmigrant*innen aus, auch hier griff die Polizei in die Proteste ein. Anders als in den Werken jedoch solidarisierten sich die deutschen Kolleginnen mit den Streikenden.
Im selben Jahr 1973 ist auch der Anwerbestopp, er trat am 23. November 1973 in Kraft. Unter dem Vorwand einer Wirtschaftsrezession sollten zum einen keine weiteren ausländischen Arbeitskräfte mehr angeboten werden und zum anderen die in Deutschland lebenden Gastarbeiter*innen möglichst wieder zurück in ihre Herkunftsländer.
Was „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“ von anderen Ausstellungen der Zeit unterscheidet, ist, dass der Leiter des Kunstamtes Kreuzberg, Dieter Ruckhaberle, sie zusammen mit dem türkischen Akademiker- und Künstlerverein konzipiert. Die Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei finanzierten als Steuerzahler*innen die Kulturproduktion in Deutschland, aber sie kämen darin nicht vor, so eines der Beweggründe von Dieter Ruckhaberle.
Zu sehen auf der nächsten Folie sind drei Cover von drei verschiedenen Büchern.
Anders als die im November 1964 im Alten Rathaus von Bremen eröffnete Landeskundliche Informationsausstellung „Türkei - Heimat von Menschen in unserer Stadt“ (şehrimizde yaşayan insanların yurdu) oder die Dokumentationsausstellung „Türkische Mitbürger in Hamburg“ von 1976 im Museum für Völkerkunde, heute Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt (MARKK), ist die Ausstellung mit Künstler*innen aus der Türkei entstanden.
Die drei Künstler der Ausstellung „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien„ sind Mitglieder des türkischen Akademiker- und Künstlervereins. Der Ausstellungstitel bezieht sich auf ihre Vornamen: Mehmet Çağlayan, Mehmet Aksoy und Mehmet Hanefi Yeter (heute nur Hanefi Yeter).
Auf der Folie ist eine schwarzweiße Abbildung eines Kunstwerks aus Ton zu sehen. Sie bildet eine zusammenstehende Familie ab.
Çağlayan präsentiert in erdigen Tönen lasierte Vasen, Schalen, Teller, Töpfe und Krüge in der Ausstellung. Daneben finden sich weitere Keramikobjekte wie ein Stier, ein Bild von einem Pferd oder Figuren wie der Soldat, der Kopf eines Baumes. Was auf der Folie zu sehen ist, ist die Arbeiter*innenfamilie.
Auch auf der nächsten Folie ist ein Schwarzweiß-Foto einer Keramikarbeit von Aksoy zu sehen: ein sitzender Mann.
Aksoy stellt zwölf Plastiken aus, hierunter finden sich kleinere Objekte wie der Arbeitslose, den wir auf der Folie sehen, der Kurzwellenhörer oder große bis überlebensgroße Figurengruppen wie „Freunde stärkt die Reihen“.
Die nächste Folie kombiniert das bereits gezeigte Ausstellungsplakat mit einem Bild von Hanefi Yeter. Zu sehen ist ein farbiges Gemälde, das eine Menschengruppe zeigt, die unter Bäumen picknickt.
Auch Yeter beschäftigt sich mit politischen Szenen in der Alltagswirklichkeit der Arbeitsmigrant*innen. Hierunter fallen mehrere Bilder von Demonstrationen: Motive, die er bei den 1. Mai Protesten von 1973 auf der Karl-Marx-Straße aufnahm oder eine größere Gruppe von Gastarbeiter*innen in der Freizeit und im Freien, „Picknick in Berlin“. Die Menschengruppe scheint sich auf kilimartigen (gewebten) Decken auszuruhen, zu picknicken oder einer Handarbeit wie Stricken nachzugehen.
Alle drei Künstler fingen ihr Studium in Istanbul an und setzten es dann an der Kunsthochschule in Berlin fort. Mehmet Aksoy hatte zu diesem Zeitpunkt sein Studium abgeschlossen und lehrte.
Zum Ausstellungskonzept
Bevor das Publikum zu den Exponaten gelangt, bewegt es sich durch die Eingangshalle vom Bethanien. In großformatigen Fotos werden Szenen aus einem anatolischen Dorf gezeigt. Man schildert ein rückständiges Dorfleben in der Türkei, um die Notwendigkeit der Emigration ins Ausland zu unterstreichen. Der zweite Abschnitt der Ausstellung informiert über die Lebensetappen in Deutschland, von der Anwerbung über die Arbeitserlaubnis, Wohnungsnachweis, Kindergeld bis hin zur Arbeitslosigkeit. Sie umfasst auch Benachteiligung und Diskriminierung in verschiedenen Lebensbereichen der sogenannten Gastarbeiter*innen. Der dritte Abschnitt besteht aus einer Geschichtstabelle der Türkei: vom Osmanischen Reich bis zum Zeitpunkt der Ausstellung. Die zweisprachigen Texte sollen sowohl die Menschen aus der Türkei als auch aus Deutschland informieren. Zu der Ausstellung gehören wie gesagt die erwähnten Veranstaltungen in der ersten Septemberwoche.
Ich zeige zwei schwarzweiße Fotos von der Veranstaltung, zu sehen ist eine Menschengruppe mit Instrumenten. Sie tragen weiße Oberteile und schwarze Hosen. Die gleichen Menschen sieht man im zweiten Bild von hinten, umgeben von einer sehr großen Menschengruppe.
Das neu gegründete „Türk İşçi Korosu“ (Türkischer Arbeiterchor) tritt auf dem Mariannenplatz auf. Sie tragen Nâzım Hikmets Gedichte wie zum Beispiel „Asker kaçagı“ (Der Deserteur) oder „Türkiye işçi sınıfına selam“ (Gruß an die Arbeiter*innenklasse der Türkei) als Lieder vor. Insgesamt bildet der Dichter Hikmet für die Ausstellung eine wichtige Referenz. Der Chor setzt sich aus Arbeiter*innen zusammen und verbindet sich mit den gewerkschaftlichen Aktivitäten der Föderation Türkischer Sozialisten in Europa ATTF (Avrupa Türkiyeli Toplumcular Federasyonu).
Die nächste Folie zeigt drei Fotos mit gleichen Motiven, die sich ein bisschen wandeln. Es sind Folklore-Tänzerinnen vor einem Gebäude.
Auch die Volkstanzgruppe hat sowohl Aufführungen in den Anfangswochen der Ausstellung auf dem Mariannenplatz und später auch in der Symphonie. Sie nimmt ihren Anfang noch unter dem Dach des türkischen Akademikervereins, aus dem später der türkische Akademiker- und Künstlerverein wird. Ihr Ziel war es, die Lücke an kulturellen Angeboten der Arbeitsmigrant*innen in West-Berlin zu schließen. Der Verein wie auch die Volkstanzgruppe wollen soziale Spannungen zwischen den deutschen und Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei abbauen.
Die dritte und letzte Komponente der Ausstellung Mehmet Berlin’de. Mehmet kommt aus Anatolien ist das Konzert Die betrübte Freiheit/Bir hazin hürriyet.
„Der türkische Arbeiter ist da“, schreibt der türkische Akademiker- und Künstlerverein im Katalog. Im öffentlichen Diskurs werden die Menschen nicht allein wegen ihrer Herkunft, sondern auch wegen ihrer politischen Herkunft diskriminiert. Das ist tatsächlich das Neue für mich.
Man sieht eine Folie, die ich schon einmal gezeigt habe: Es ist der Mann mit dem Megafon.
Die Arbeiter wählen Baha Targün ins Streikkomitee bei den Ford-Streiks. Er kam 1970 nach Deutschland, um zu studieren. 1973 arbeitete er erst einmal als Dolmetscher, danach als Angestellter der Dresdner Bank und schließlich bei Ford. Auf dem Berghof ruft er durchs Megafon: „Sechs Wochen Urlaub und eine Mark mehr.“ Für die Boulevardpresse ist klar, in die Streiks haben sich Kommunist*innen wie Baha als Mitarbeiter*innen auf das Werksgelände eingeschlichen. Die Boulevardpresse fragt sich besorgt, ob die Gastarbeiter die Macht übernehmen. Als Polizisten mit ihren Knüppeln den Streik beenden, ist für „die Bild“ die Sache klar: Deutsche kämpfen ihre Fabrik frei und das sind keine Gäste mehr. Der türkische Spion, der ein System infiltriert, ist eine wiederkehrende Trope.
Die Nähe des türkischen Akademiker- und Künstlervereins zur Türk Toplumcular Ocağı (Türkische Sozialistengemeinschaft/TTO) ruft beim Berliner Senat im Vorfeld der Ausstellung Vorbehalte hervor, da dieser die TTO als marxistisch-kommunistisch einstuft. Der Axel Springer Verlag, damals die Berliner Morgenpost, fordert zusammen mit der CDU die Absetzung des Konzerts in der Philharmonie. Der Arbeiterchor, also die ATTF, wird verdächtigt, in der Türkei als linksextremistisch verboten zu sein. Dem widerspricht der Bezirksrat Rainer Gericke in einer Pressemitteilung. Der Axel Springer Verlag und die CDU kolportieren darüber hinaus, die Einschätzung des Bundesministeriums des Inneren unterfüttere scheinbar die ideologische Gefährlichkeit des Chors. Das Konzert findet trotz solcher Störungsversuche statt. Die Migrant*innen aus der Türkei erleben somit eine mehrfache Einengung ihrer Selbstentfaltung.
Auf unterschiedliche Weise zeigen sich auch die Klassenunterschiede zwischen den Akteur*innen der Ausstellung und dem Publikum. Die Unterschiede zwischen den Künstler*innen, Akademiker*innen und den Arbeiter*innen. Denn was sich so verändert, ist die Vorstellung in der deutschen Wahrnehmung von „dem Türken“, das allmählich aufweicht und Differenzen entlang Ethnie, Politik, Religion und Ähnlichem erfahrbar macht.
Im Gespräch
Sie haben ein oft unausgesprochenes Thema besonders hervorgehoben: Diskriminierung aufgrund politischer Herkunft. Können Sie darauf mehr eingehen?
Das ist mir erst während der Recherchen aufgefallen. Es gibt in der Fontane-Apotheke einen Ordner zur Ausstellung, der für alle Personen zugänglich ist. Dort ist mir aufgefallen, dass die Menschen, die aus der Türkei gekommen sind, hier arbeiten und sich für die Arbeiter*innen einsetzen, oft verdächtigt werden, marxistisch-sozialistisch zu sein. Und das in beiden Ländern: in der Türkei, aus der sie fliehen und in Deutschland. Sie als Spione, als Kommunist*innen wahrzunehmen und damit zu brandmarken, fand ich ein ungewöhnliches Phänomen. Das setzt sich an verschiedenen Stellen fort.
Hanefi Yeter zum Beispiel kommt 1972 nach Berlin und hat 1973 seine erste Ausstellung in Ost-Berlin bei einer Art Grafik-Biennale, bei der er seine Arbeiten zeigt. Der türkische Arbeiterchor hat 1980 ein Friedenskonzert in Ost-Berlin. Also zwischen der Gruppe der (Arbeits)migrant*innen aus der Türkei und den Ostdeutschen gibt es einen Austausch und dieser ist auch erwünscht, aber er wird auch als Problem wahrgenommen während des Kalten Krieges.
Die wirklich sehr wichtige Referenzfigur, Nâzım Hikmets, muss ich an dieser Stelle noch einmal kurz ausführen. Nâzım flieht 1950 aus der Türkei, nachdem er mehrmals im Gefängnis war und geht nach Moskau ins Exil. Er ist ein Kommunist und kam deshalb in der Türkei ins Gefängnis. Bis zu seinem Tod lebt er in Moskau und reist in die damaligen Bruderländer, unter anderem auch Deutschland, wo er kurz in Leipzig lebt und zwei Gedichte über die Stadt schreibt. Weil er so eine wichtige Referenzperson für die Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei ist, gibt es auch immer wieder die Verbindung zu Ostdeutschland, und eben auch zu Osteuropa.
Es gibt in Deutschland beispielsweise dieses Bild des migrantischen Arbeiters, der nicht besonders gut gebildet und kulturfern ist. Das hat auch etwas damit zu tun, wer die Deutungshoheit hat. Es ging viel um diese eine Ausstellung, die ein namhaftes Beispiel dafür ist, wie falsch dieses Bild ist. Gibt es weitere Ausstellungen, die Sie aus Ihren Recherchen kennen, in denen diesem Bild entgegengearbeitet wurde?
Diese Ausstellung und die zwei weiteren, die ich erwähnte, sind eine Reaktion auf den Anwerbestopp. Darüber hinaus gibt es weitere Ausstellungen, aber ich habe sie nicht erwähnt, weil sie anders funktionieren. Die Stärke von „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“ liegt darin, dass sie wie ein Festival gedacht wurde und von vornherein an das Publikum dachte und überlegte, wie sie ein bestimmtes Publikum in die Ausstellung und Feierlichkeiten integrieren kann.
1975 gab es im Kunstverein München eine Ausstellung, die hieß „Gastarbeiter“. Dort gab es Künstler*innen, die an der Akademie in München studiert haben und sie zeichneten Menschen am Fließband bei BMW, dessen Sitz in München ist. Dann gab es 1975 die Ausstellung „Gastarbeiter – Fremdarbeiter“ von Vlassis Caniaris, einem griechischen Künstler, der vor der Diktatur in Griechenland geflohen und über ein DAAD-Stipendium nach Berlin gekommen ist. Er macht Arbeiten, wo er das Thema Gastarbeit aufgreift. Beispielsweise Skulpturen, die das Thema Kindheit aufgreifen oder kopflose Menschen mit Koffern, bei denen klar ist, dass es um Exil und Migration geht. Ein weiterer sehr wichtiger Künstler ist Drago Trumbetaš in Frankfurt. Er kommt aus dem ehemaligen Jugoslawien und ist selbst Arbeiter. Ihn finde ich tatsächlich sehr besonders, weil er aus der Kategorie der anderen Künstler*innen fällt, weil er sowohl Arbeiter als auch Künstler ist. Er zeichnet seine Alltagssituationen und seine Werke sind zum Beispiel in der Bundeskunsthalle Bonn zu sehen, die die ganze Serie zeigt. Es gibt also einiges und die Unterschiede sind wichtig im Hinblick darauf, wer spricht und für wen wie gesprochen wird.
Maja Bogojević: Vielen vielen Dank für deine Analysen und dass du uns verschiedene Bereiche aufgezeigt hast, in denen auch innerhalb der Kategorie Arbeiter*in massive Unterschiede gibt, wie sie ihr Leben erfahren und wie sie entlohnt werden, beispielsweise wieviel Kindergeld sie bekommen können.
Nachdem wir in die Vergangenheit und die Historie Deutschlands, nämlich der Gastarbeit, geschaut haben, wollen wir jetzt in die Gegenwart schauen und über den wichtigen Transformationscharakter von Bildung sprechen und wie wichtig Bildung dabei ist, um Klassismus entgegenzuwirken. Deswegen wird besonders oft auf Bildungsungerechtigkeit geschaut, insbesondere auf die Universitäten. Denn der Zugang zu weiterführender Bildung und Universitäten ist nicht für alle gleich. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich wird Bildung immer noch weitervererbt. Also wenn Eltern eine formelle institutionelle Bildung genießen durften, ist die Wahrscheinlichkeit viel höher, dass auch die Nachkommen oder die Kinder an die Universität gehen. Ich würde richtig gern sagen, vor allem an Kunstunis, aber ich konnte gar nichts dazu finden. Deswegen sage ich jetzt einfach nur, auch an Kunstunis. Aber wenn Personen von euch schon einmal an Kunstunis waren oder mit Personen gesprochen haben, die an Kunstunis sind, sind da klassistische, aber auch rassistische, ableistische etc. Ausschlüsse Alltag.
Der Bildungshintergrund beziehungsweise der sozioökonomische Hintergrund einer Person trägt maßgeblich dazu bei, wie die Bildungsbiografie einer Person verläuft und zeigt, dass zwei Drittel von Personen mit Eltern, die eine Uni besucht haben, sich auf das Geld ihrer Eltern verlassen können. Bei Kindern von Arbeiter*innen sind es nur 15 Prozent. Also wenn wir das Ganze ökonomisch betrachten, ist das Privileg, studierte Eltern zu haben, für die Erfahrungen an der Uni wichtig. Im deutschsprachigen Raum haben Staaten verpasst, die Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, die durch die Herkunftsfamilie hergestellt werden, auszugleichen. Viele Bildungswissenschaftler*innen sagen, genau dort wäre die Aufgabe von Schulen, Universitäten und generell Bildungsinstitutionen, diesen Ausgleich zu schaffen.
Deswegen freue ich mich umso mehr, dass Petja Dimitrova über die Ausschlüsse an der Kunstakademie sprechen wird. Sie ist Künsterlin und Dozentin an der Akademie der Bildenden Künste in Wien und ihre künstlerische, kuratorische, bildungspolitische und aktivistische Praxis entwickelt sie im Zusammenhang mit Künstler*innenkollektiven, Bildungsinitiativen, migrantischen und diasporischen Selbstorganisationen.
Ihr Input beschäftigt sich mit den Widersprüchen in der Programmatik und der Durchlässigkeit an den Kunsthochschulen und schaut darauf, wie tiefgreifend Ausschlüsse in akademischen Strukturen der Kunstuniversität greifen und wirken. Sie macht eine Bestandsaufnahme.
Beitrag 2: Diversität unter Eliten. Klassismus, Grenzregime und migrantische Kämpfe an der Kunstuniversität in Österreich
Petja Dimitrova
Hallo auch von mir. Ich bin klein, trage ein schwarzes T-Shirt mit einem glitzernden Abdruck einer Kampagne und eine Hose. Ich habe graue Haare, die einmal schwarz waren.
Über Klasse, Klassismus und Ausschlussmechanismen, aber auch Demokratisierung im Kunst- und Kulturfeld, wurde in den letzten Jahren zunehmend debattiert. Kulturschaffende aus deprivilegierten, sozioökonomischen Schichten erzählen, wie Habitus, Sozialisierung, Bildung und ökonomischer Druck sowie fehlende Netzwerke und Unterstützung aus dem familiären Umfeld den Weg zur Anerkennung erschweren.
Nun, wer sind die Deklassierten und Deplatzierten in der postmigrantischen Gesellschaft im deutschsprachigen Raum? Wer sind diejenigen, die im Kunst- und Kulturfeld Klassismus erfahren? Wer sind diejenigen, die Kämpfe für Verschiebungen dieser Verhältnisse - womöglich auf kollektive Art - führen, um gegen Ausschlüsse vorzugehen und für alle geltende Zugänge zu erreichen?
Wenn wir uns auf die Geschichte eines postnazistischen Österreichs beziehen, wissen wir, dass die Mehrheit der Österreicher*innen durch die Arbeitsmigration der 60er und 70er Jahre einen sozialen und beruflichen Aufstieg erfahren haben. Ähnlich auch in der Bundesrepublik Deutschland. Mehrere Generationen von Arbeitsmigrant*innen, Exilmigrant*innen und Geflüchteten stellen bis heute einen Großteil der Arbeiter*innenschaft dar und sind weiterhin sozioökonomisch benachteiligt. Für sie bleibt der Zugang zu etablierten Kunst- und Kulturbetrieben sowie Kunstuniversitäten weiterhin enorm erschwert.
Es ist längst selbstverständlich, über Kunst- und Kulturarbeit in der postmigrantischen Gesellschaft zu sprechen. Nicht selbstverständlich ist jedoch der Abbau von Barrieren oder eine Umverteilung von Ressourcen für migrantisierte, sozioökonomisch benachteiligte Künstler*innen oder Bewerber*innen und Studierende an den Kunstuniversitäten.
Ich möchte zur Erinnerung einen kleinen historischen Exkurs machen, woher gewisse Debatten und Diskurse kommen und um abzurufen, woher gewisse zivilgesellschaftliche Bewegungen im Kulturfeld kommen und wie sie interveniert haben.
In einer Zeit der neuen Konstituierung Europas, ab Mitte der 90er Jahre, in der Migrationsbewegungen, aber auch das Aufkommen rechtspopulistischer Parteien zunahmen, entstanden in Österreich, aber auch in Deutschland, mehrere politische Selbstorganisationen von Migrant*innen beziehungsweise nahmen enorm zu. Diese Organisationen stellten zunehmend Forderungen nach gesellschaftlicher Partizipation, politischer Mitbestimmung, gleichen Rechten sowie einem gleichberechtigten Zugang zu Bildung, Kultur, Medien usw.
Beim Begriff „Migrant*innen“ beziehe ich mich auf die Definition, die um die 2000er Jahre von der feministischen Migrant*innenorganisationen FeMigra in Frankfurt und maiz in Linz formuliert wurde. Diese lautet: „Migrant*innen steht als ein Gegenentwurf, als die Bezeichnung eines oppositionellen Standorts, der sich als eine Bestimmung der eigenen politischen Identität konstituiert. Die Konstruktion einer Migrant*innenidentität sehen wir als eine Strategie im Kampf um die Realisierung gleichberechtigter Partizipation im europäischen Territorium und als Strategie für die Veränderung beziehungsweise den Abbau von Strukturen des Ausschlusses.“
Da viele öffentliche Diskurse über Migrant*innen auf der Kulturebene geführt werden, intervenieren Aktivist*innen aus migrantischen Selbstorganisationen und fordern vom Kunst- und Kulturfeld: Künstler*innen sollen als Verbündete auftreten und in Allianzen für gesamtgesellschaftliche Veränderungen agieren. Tania Araujo vom Verein maiz schreibt im Onlinemagazin „Feminismus und Krawall“ in ihrem Text „Allianzen zwischen umkämpften Territorien und erkämpften Solidaritäten“: „Das Feld der Kunst- und Kulturarbeit ist eine Arena der Bedeutungskämpfe. Nicht nur strukturelle Barrieren produzieren Ausschluss, sondern insbesondere auch Diskurse und soziale Distributions- sowie Distinktionsmechanismen innerhalb der hegemonialen kulturellen Theorie/Praxis, die sich in rassistischen Kategorisierungen und Ausschlüssen ausdrückt.“
Es folgen mehrere Interventionen in Kunstinstitutionen, Festivals, vor allem in der freien Kulturszene in Österreich, begleitet vom zentralen Ansatz für antirassistische Kulturarbeit. Organisierte Migrant*innen fordern einen politischen und stellen sich gegen einen moralischen Antirassismus. Die Frage nach einer Allianzbildung wird dabei besonders bearbeitet. Im Jahr 2013 beispielsweise formulieren die AutorInnen Ljubomir Bratić und Daniela Koweindl im Rahmen einer der ersten Interventionen gegenüber größeren Kulturfestivals in Wien in der Publikation „Allianzen bilden zwischen Kunst und Antirassismus“ diesbezüglich folgendes: „Politischer Antirassismus charakterisiert sich vor allem durch eine Abkehr von der den Migrant*innen zugeschriebenen Opferrolle. Die Diskriminierung im Auge behaltend, konzentriert sich politischer Antirassismus auf die Betonung der Rolle der Akteur*innen. Die Überlegung zu dieser Rolle soll zu Ergebnissen führen, die sich weder in Viktimisierung noch Individualisierung verlieren, sondern sie als ein konkretes Instrument begreifen. Diese sind u. a. Selbstempowerment, Normalität begreifen, Theorieproduktion und Allianzenbildung.“
Die meisten Studierenden an Kunsthochschulen stammen aus bürgerlicher Mittelschicht
All diese Diskurse und Praktiken wurden in dieser Zeit auch an die Kunstunis herangetragen. Es wurden Fragen gestellt: Wer studiert an der Kunstakademie? Wer wird zugelassen? Was bedeutet soziale Gerechtigkeit an einer Kunstuniversität? Also Suggestivfragen an eine öffentliche Kunstuniversität ohne oder mit nur geringen Studiengebühren, ohne Matura oder höhere formale Bildung als Voraussetzung für das Studium der Bildenden Kunst, in der Chancengleichheit und der Zugang zum Studium für alle Bevölkerungsgruppen großgeschrieben wird.
Im Jahr 2009 wurde daraus eine Studie zur sozialen Lage und den sozialen Barrieren beim Zugang zu Kunststudien von Barbara Rothmüller. Dies war das erste Mal, dass eine solche Studie in diesem Feld durchgeführt wurde. Ausgangspunkt an der Akademie war eine Betriebsvereinbarung zu Antidiskriminierung, die von antirassistischen Kollektiven und NGOs entwickelt worden ist. Die Erkenntnisse aus der Studie waren nicht überraschend: Die meisten Studierenden an der Kunstakademie stammen aus bürgerlicher Mittelschicht, haben einen höheren Bildungshintergrund und verfügen über höhere finanzielle Ressourcen. Sie stammen häufig aus Akademiker*innen- oder Künstler*innenfamilien, haben bereits Studienabschlüsse, Netzwerkzugang im Kunst- und Kulturbereich usw.
Die seitdem damit verbundenen Debatten führten dazu, dass Institutionen gemäß ministeriellen Vorgaben jährliche Erhebungen durchführen, in denen Informationen über den sozioökonomischen Status, das Durchschnittsalter, den Bildungsgrad, die Nationalität, den Bildungsstand und das Einkommen der Eltern aller Bewerber*innen in Antragsformularen erfasst werden. Bis heute zeigen sich ähnliche Ergebnisse der Studierendengruppen. Hier eine kleine Anekdote aus einem informellen Gespräch mit einer queeren Studierenden der sogenannten dritten Generation: „Ich habe mich lange nicht getraut, mich zu bewerben, aber mit 27 Jahren habe ich einiges durchgemacht und Freunde aus der queeren Szene haben mich ermutigt, es zu versuchen. Und dann kamen diese Fragen im Bewerbungsformular zum Bildungsgrad und Einkommen meiner Eltern. Das fand ich eine Frechheit. Beim Ausfüllen habe ich gelogen und ein höheres Einkommen angegeben.“ So viel zu Daten in Statistiken.
Kämpfe, Diskurse und Ambivalenzen an den Kunstunis
Durch engagierte Lehrende, Studierende oder beauftragte Arbeitsgruppen wird weiter an Maßnahmen gearbeitet, um die Anzahl von Bewerber*innen aus niedrigen sozioökonomischen Schichten zu erhöhen - durch Drittmittel finanziert, zum Beispiel in Projekten wie „Akademie geht in die Schule“ der Kunstakademie in Wien oder Kurse für Refugees. So wird auf die Bekanntmachung von Kunststudien sowie eine potenzielle Rekrutierung diverserer Kunststudienbewerber*innen abgezielt. Die Entscheidungsmacht über die Zulassung bleibt jedoch unangetastet. Unklare, wenig nachvollziehbare Kriterien für diese beziehungsweise für die Eignung oder Anforderungen an die künstlerischen Mappen genauso. Die Professor*innen entscheiden aufgrund ihres intuitiven Wissens, Gespürs oder Geschmacks.
All diese Kämpfe, Diskurse und Ambivalenzen werden an den Kunstunis repräsentativer und aktueller. Kunststudierende thematisieren durch ihre künstlerischen Arbeiten, Diplomabschlüsse oder kollektiven Projekte zunehmend das prekäre, unprivilegierte, migrantisierte und intersektionale Leben. Realpolitische Verschiebungen und Veränderungen in den Kunstinstitutionen treten allerdings nur dann ein, wenn diese auf kollektiver und organisierter Ebene ausgetragen werden.
[Petja Dimitrova zeigt zum Abschluss einige Bilder von bedeutenden Projekten, die es geschafft haben, Verhältnisse an den Kunstuniversitäten durch ihre Interventionen zu verändern]
1. Folie: Eine Postkarte von 2010. Sie zeigt die Aktion gegen Studiengebühren für sogenannte Drittstaatsangehörige sowie gegen die mangelnde Unterstützung seitens der Institutionen hinsichtlich restriktiver Einwanderungsgesetze. Die Postkartenaktion wurde in verschiedenen Sprachen an das Direktorat geschickt.
2. Folie: Eine Collage von einer 2008 selbstorganisierten Ausstellung von Studierenden, die sich mit illegalisierten und von Abschiebung bedrohten Studierenden solidarisiert.
3. Folie: Fotoaufnahmen von einer selbst initiierten Auktion 2011, bei der Bilder verkauft wurden. Sie wurde mit Performances für die Einrichtung eines Fördertopfes für Studierende in finanzieller Notlage begleitet. Diese Auktion war ziemlich erfolgreich und wurde daraufhin von der Universität übernommen. Sie wird nun jährlich durchgeführt. Jetzt zwar in ganz anderem Sinne, aber ein Teil des Geldes wird für Leistungsstipendien oder Unterstützungen weitergetragen.
4. Folie: Bild eines selbstorganisierten Ausstellungsprojektes von 2016, mit Publikationen und Aktionen von Künstler*innen aus verschiedenen diasporischen Zusammenhängen in der Kunstakademie. Beispielsweise Dozent*innen, die sich mit der Kritik an der Auswirkung von Kolonialismus im akademischen Bereich beschäftigen und nach Veränderungen in diesem suchen.
5. Folie: Die Fassade der Kunstakademie, behängt mit verschiedenen Bannern. Es geht um die größte universitäre Protestbewegung in Österreich gegen die Bologna-Reformen im Jahr 2009. Sie hat mehrere Monate gedauert und ist aus der Kunstakademie heraus entstanden. In einem zweiten Bild sehen wir eine Bilder-Collage verschiedener Aktionen während der Protestbewegung.
6. Folie: Eine Bildcollage der europaweiten Refugee-Bewegung 2023, die auch in Österreich stattfand. Zu sehen ist die Besetzung von Parks, Kirchen und der Kunstakademie, zu sehen ist deren Aula.
7. Folie: Eine Bildcollage vom November 2022, von einer weiteren großen universitären Protestbewegung, die leider nicht so groß und erfolgreich wie damals 2009 war, weil dort unmittelbar die Studienverhältnisse selbst betroffen waren. Sie heißt „Uni brennt, Erde brennt“, angelehnt an die Klima- und Bildungskrise. Sie hat als Massenbewegung weniger Anknüpfung gefunden.
Im Gespräch
In der Anekdote hast du davon erzählt, wie eine studieninteressierte Person falsche Angaben zum Einkommen der Eltern macht. Wo siehst du eine Lösung in diesem Spannungsfeld zwischen dem Bedarf an quantifizierbaren Daten zur Erhebung von Klassismus und gleichzeitig dem Problem, dass die Ergebnisse sich nicht mit den realen Begebenheiten decken - unter anderem, weil Personen Nachteile darin sehen, richtige Angaben über ihren sozio-ökonomischen Hintergrund zu machen?
Ein großer Teil, den ich nicht ansprechen und abwickeln konnte, ist diese Ambivalenz des politischen Begehrens für Diversifizierung, das stark mit einer Top-Down-Perspektive aus europäischen, ministerialen und neoliberalen Direktiven, die zu erfüllen sind, einhergeht. Die Intention ist eigentlich die gleiche wie bei Genderdiversität oder -mainstreaming: Chancengleichheit.
Hier ist die Frage, was heißt es, wenn die Barrieren nicht abgebaut sind und angeblich anonymisiert Datenerhebung betrieben wird, aber nicht verstanden wird, was wichtig ist. Und warum es wichtig ist, besser zu verstehen, gewisse Verhältnisse offenzulegen. Ich würde sagen, weil es neoliberale Managerie und stigmatisiert ist.
Publikumsfrage: Ich habe das Gefühl, dass sich Künstlerinnen und Künstler oft gezwungenermaßen mit der eigenen Identität und Marginalisierungserfahrung auch in ihrer Kunst auseinandersetzen müssen. Aber wenn ich über Antiklassismus nachdenke, dann wünsche ich mir nicht diesen Zwang, unbedingt identitätspolitisch Kunst machen zu müssen, sondern die Kunst, die schon vor der klassistischen Abwertung steht, direkt in die Kunstkultur zu integrieren. Inwiefern siehst du da eine Entwicklung, dass eine größere Breite an Ausdrucksformen, die nicht unbedingt an die eigenen Erfahrungen geknüpft sein müssen, möglich wird?
Ich muss daran denken, dass der Diskurs über Ungleichberechtigung und Barrieren dazu geführt hat, dass die Künstler*innen, die Klassismus thematisieren, anerkannt und während des Studiums mit Diplomabschlüssen oder Preisen gewürdigt werden. Es gibt vielleicht thematische Ausstellungen, aber das Thema Klassismus als eigenständige künstlerische Praxis findet es keinen Platz. Also entweder verlässt man die Markierung sowie das Darübersprechen und entwickelt andere Strategien oder man bleibt weiterhin strategisch und arbeitet aus dieser sozioökonomischen Identität oder Position heraus.
Maja Bogojević: Vielen Dank für deine Arbeit und die Einblicke in die österreichische Kunstuni. Wir haben uns jetzt in den letzten zwei Beiträgen sowohl historisch als auch gegenwärtig mit Klassismus – an der Kunstuniversität in Österreich und in der Geschichte der Gastarbeit – auseinandergesetzt. Jetzt wollen wir auch in die Zukunft schauen: Was für Möglichkeiten gibt es, diese ganzen problematischen Dinge abzubauen? Da freue ich mich besonders, dass Future Move heute da sein kann, ein Mentoringprogramm für Personen aus marginalisierten Communities. Wenn wir in die Bildungswissenschaft schauen, wird das Potential von Mentoring sehr oft betont, in dem eine Person aus dem Umfeld oder aus der Familie bei Entscheidungen zur Seite stehen kann. Genau dieses Potenzial des Mentorings nutzt auch Future Move, welches sich an junge Menschen aus verschiedenen Tanzrichtungen richtet.
Beitrag 3: Künstlerische Tanzausbildung mit Future Move: Barrieren überwinden, Zugänge schaffen
Bahar Meriç, DOore tOx Antrie und Silke Ballath
Bahar Meriç: Hallo, ich bin Bahar, ich identifiziere mich als Woman of Color, habe dunkelbraunes, hochgestecktes Haar. Ich bin mittelgroß mit 1,64m und trage ein gelbes T-Shirt und eine schwarze Hose. Ich bin Choreografin und die Projektinitiatorin von Future Move.
DOore tOx Antrie: Mein Name ist Doore Antrie. Ich trage ein lila Shirt, eine Goldkette, Jeans und schwarze Schuhe. Ich habe einen Undercut, frosted curls. Das erst einmal zu meinem Äußeren. Ich bin eine teilnehmende Person des Mentoringprogramms. Ich identifiziere mich als non-binary und als queere Person. Ich bin eine Lightskin Schwarze Person und in Deutschland sozialisiert.
Silke Ballath: Hallo, mein Name ist Silke Ballath. Ich bin etwas zwischen mittelgroß und etwas größer, 1,74m glaube ich. Ich habe dunkelblonde, graue Haare, eine Art Dutt, trage ein hellblaues T-Shirt und eine lila Jeans. Ich bin in Deutschland sozialisiert, weiß positioniert und meine Pronomen sind sie und ihr.
Silke Ballath: Das Projekt „Future Move tanzt“ heißt im ganzen weiter „Berufsperspektiven für junge Tanzschaffende“. Wir vom Projektteam sind alle Mitglieder des Vereins Future Move e.V. und unsere Projekte und Formate sollen oder wollen Zugang und Teilhabe schaffen. Es geht im Grunde darum, Menschen – im konkreten Tänzer*innen – in ihrem künstlerischen Werdegang zu empowern und zu unterstützen. Wir setzen uns für eine offene Gesellschaft ein, gegen Ausgrenzung, Diskriminierung und Rassismus.
Bahar Meriç: Ok, was ist das Mentoringprogramm „Future Move - Berufsperspektiven für junge Tanzschaffende“? Es ist ein Projekt zum Austausch künstlerischer Tanzpraxis, das sich an junge Menschen aus unterschiedlichen Tanzrichtungen richtet, die Teil von marginalisierten Communities sind. Das Programm soll junge Menschen empowern und ermutigen, ihre Potenziale und Fähigkeiten für einen Berufswerdegang innerhalb der Tanz- und Performanceszene beziehungsweise in der Kunst- und Kulturwelt zu erkennen und sie zu nutzen. Wir sind im Mai 2023 in unseren Piloten gestartet.
Unsere Teilnehmenden sind junge Menschen zwischen 19 und 27 Jahren, die in Berlin leben. Sie sind Nachkommen von Arbeitsmigrant*innen, Angehörige der Rom*ja und Sinti*zze, queere, migrantisierte und mehrfach marginalisierte Menschen. Wir möchten den Teilnehmenden ganz konkret durch Besuche in Ausbildungsinstitutionen Ängste und Hemmungen nehmen, sie durch Gespräche, gemeinsame strukturelle Reflexion und Austausch mental auf Ausbildungen vorbereiten und ihnen sowohl formale als auch informelle Wege zur künstlerischen Professionalisierung aufzeigen.
Auf einem Papier hat der Runde Tisch Tanz 2019 für die Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa (heute Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt) festgehalten, „dass die Gruppe der Akteur*innen, die im Bereich Tanz und Choreografie arbeiten, sehr homogen ist.“ Das heißt, es handelt sich um junge, weiße, schlanke, gut trainierte, meist able-bodied Personen. Menschen mit Behinderung sowie körperlichen, mentalen, sensorischen und physischen Einschränkungen oder solche, die nicht den Körper- oder Altersnormen entsprechen, sind dagegen selten auf den Tanzbühnen zu finden. Ebenfalls unterrepräsentiert sind Künstler*innen mit Mehrfachmarginalisierung, wie Personen mit Fluchterfahrung beziehungsweise mit Migrationshintergründen. Genauso queere, trans, inter, non-binäre, Gender nonconforming identifizierte People of Color sowie sozioökonomisch benachteiligte Personen sowie Menschen mit nachteiligen Ost-West-Sozialisierungen. Weiter heißt es vom Runden Tisch Tanz, „die noch fehlende Teilhabe unterrepräsentierter Künstler*innengruppen am Tanz betrifft die klassischen Säulen Personal, Programm und Publikum, aber auch die Ebenen Förderung, Zugang zu Räumen wie Weitung von Institutionen.“
Es gibt also ein Inklusionsproblem und das gibt es nicht nur, wenn es schon darum geht, wer Zugänge in die Ausbildung erhält, sondern schon davor: Wenn es nämlich darum geht, überhaupt den Beruf Tanz als ernsthafte Möglichkeit zu erkennen und eingebunden zu werden in die Berufsvorbereitung. Jetzt werden vielleicht einige von euch sagen, na ja, aber kulturelle Bildungsprojekte an Schulen und auch außerhalb von Schule leisten doch ihren Teil dafür. Das möchte ich aus meiner Erfahrung heraus verjeinen. Auch wenn das ein bisschen so passiert, nutzen die kulturellen Bildungsprojekte eben eher künstlerisch-edukative Methoden. Also im Fokus steht eigentlich nicht unbedingt die Berufsorientierung oder auch die eigentliche künstlerische Praxis.
Und es gibt auch noch einen persönlichen Antrieb zu diesem Projekt, nämlich die Erfahrungen, die ich selbst in meinem Werdegang zur Choreografin gemacht habe und den ich gerne teilen möchte. Ich bin Nachkommin einer sog. Gastarbeiter*innenfamilie. Meine Großeltern sind in den 60er Jahren nach Berlin gekommen und brachten ihre Kinder – also meine Eltern – mit nach Berlin (ein bisschen später kamen die Kinder nach). Meine Familie und meine türkischen Wurzeln brachten mir großartige Musik, Rhythmus, türkische Volkstänze und gutes Essen bei. Meine tänzerische Ausbildung erwarb ich im Ballett, eher so zufällig. Meine Eltern haben mich so hobbymäßig in eine Tanzschule gesteckt und dann wurde ich ganz schnell addicted [süchtig danach]. Ich war fünfmal die Woche beim Tanzen. Dann habe ich die Tanzschule gewechselt und bin zu Sabine Roth gegangen, die mich ziemlich stark gefördert und an die Hand genommen hat. Sie hat mir die Codes gezeigt, wie das so alles im Ballett (sprachlich) funktioniert und wie man sich da so verhält. Im Alter von 14 Jahren habe ich dann das erste Mal ein Theater betreten - ganz klassisch Schwanensee angeschaut. Und da war's um mich geschehen.
Genau das ist eigentlich das, worum es auch in dem Mentoringprogramm geht. Also Menschen an die Hand nehmen und sie über Erfahrungen an diese Orte bringen. Ich wurde ermutigt, eine Tanzausbildung zu machen und mich an Kunsthochschulen zu bewerben, obwohl ich mich in diesen Räumen nicht gesehen habe. Ich habe nicht gedacht, dass ich in diesen Räumen bestehen kann, weil ich das ganze sprachliche Wissen und das Wissen um die Tanzszene nicht hatte. Ich dachte, ich bringe das gar nicht alles mit und deswegen hatte ich so große Ängste und Hemmungen, sodass ich mich gar nicht erst an einer Uni beworben habe. Ich habe mich nicht informiert. Also habe ich mich sehr sehr stark entfernt, weil ich einfach Angst hatte. Dann habe ich andere Menschen kennengelernt und das war mein Glück! Diese Menschen haben mich an die Hand genommen, haben mich in die Szene mit hereingenommen, haben mir ihre Ästhetiken gezeigt. Ich habe viel gelernt, bin viel und oft gescheitert - und das finde ich aber gar nicht so schlecht, weil das bringt einem ja auch immer etwas bei. Schließlich ist dann trotzdem aus mir eine Choreografin geworden.
DOore tOx Antrie: Aus diesen Erkenntnissen und den Erfahrungen, wie sie Bahar und auch viele weitere marginalisierte Personen machen, haben wir uns folgende Fragen gestellt: Wer bestimmt, was Kultur ist? Wer bestimmt also, was Kultur ist? Wer sitzt mit welchen Wertevorstellungen in den Leitungspositionen? Warum sitzen wir als mehrfach marginalisierte Personen hier und leisten immer wieder diese Arbeit? Welche Privilegien haben Personen auf dem Weg in die deutsche Kulturwelt erlangt oder aufgeben müssen?
Die unreflektierte Perspektive von weißen Menschen auf ihr Umfeld und die Gesellschaft, also der ansozialisierte White Gaze (Blick), die kapitalisierte Wettbewerbskultur und die nicht aufgearbeiteten und internalisierten, multiplen -Ismen in den elitären Kulturinstitutionen mindern den Zugang für junge, marginalisierte Personen, Kunst zu schaffen. Wer verfügt über die wenigen Studienplätze, die unter wessen Kriterien vergeben werden - Wettbewerb oder Inklusion? Wer wird ernst genommen und wer wird so lange ignoriert und ausgegrenzt, bis die Thematiken der Betroffenen zum Trend werden und Profit daraus gemacht wird? Was macht das mit den Generationen von Personen, die jahrelang ausgegrenzt und als unpassend markiert werden? Wer hat die Kapazitäten, sich aufzuklären, weiter zu lernen, stark zu sein, Selbstbewusstsein zu haben, sich zu organisieren, zu rehabilitieren beziehungsweise Traumata zu heilen und wieder mitgestalten zu können? Die institutionelle und gesellschaftliche Haltung, Situation und der Werdegang von Bahar und anderen Personen sowie folgende Studien machen deutlich, dass es eine Begleitung rund um das Berufsfeld Tanz und andere darstellende Künste generell braucht.
Silke Ballath: Genau, DOore hat gerade die Forschung angesprochen und zwei Studien haben wir herausgesucht, die gerade erschienen sind: Eine Studie heißt Delphi Studie, im September 2022 erschienen und die andere, Brandeins vom November 2022. In beiden geht es im Grunde um die Frage, wie Zugänge geschaffen werden. Es werden drei Aspekte genannt: Familie, individuelle Begleitung, sozioökonomische Aspekte. Daran wollen wir anschließen und präsentieren euch jetzt ganz schnell die Säulen, auf denen Future Move fußt.
Dies sind drei Säulen: Tanz, Ausbildung und Forschung. Diese gliedern sich noch einmal auf: Im Bereich Tanz geht es darum, dass Workshops mit Expert*innen gemacht werden und damit wollen wir das Netzwerk der jungen Menschen stärken. Dann ist der zweite Aspekt die Ausbildung. Da geht es darum, unter anderem unterschiedlichste Institutionen von Ausbildungsstätten bis hin zum Tanzhaus NRW kennenzulernen und auch Beratung und Unterstützung zu geben, beispielsweise bei Bewerbungen. Der dritte Aspekt sind die Eigenprojekte, bei denen es um das Empowerment derjenigen geht, die teilnehmen, um Eigenverantwortlichkeiten und um die Möglichkeit, sich und die eigenen Stärken zu zeigen. Dann gibt es den Aspekt der Forschung, der allerdings vor allem spezifisch darauf abzielt, in Reflektionsebene miteinander zu gehen. Es geht also eher um eine Praxisforschung. Übergreifend ist der Aspekt, dass alle Ebenen pädagogisch begleitet werden und es immer die Möglichkeit gibt, die Familien mit einzubeziehen.
Bahar Meriç: Was braucht es, um Zugänge zu schaffen? Kurz zu den Barrieren für uns als Projektinitiator*innen: Klassismus und das europäische Verständnis von Kunst sind uns besonders im Aspekt der Projektfinanzierung auf vielen Ebenen begegnet. Die einprägsamste Rückmeldung war, dass die Kosten für unser Projekt insgesamt zu hoch seien für so wenige – 20 – Teilnehmende. Unser Projekt finanziert in erster Linie 20 Teilnehmende, involviert sind aber auch weitere 50 Personen, darunter 30 junge Menschen aus den Ausbildungs- und Kulturinstitutionen. Ich mache mal kurz eine Rechnung auf: In unserer Finanzierung bedeutet dies in konkreten Zahlen: 5.000,00 EUR pro Teilnehmende*r für das gesamte einjährige Programm. Das sind 416,00 EUR pro Monat, 104,00 EUR pro Woche und ganze 15 EUR pro Tag, die an Kosten entstehen für eine teilnehmende Person. Im Vergleich dazu sind uns Förderprogramme und Preise in den Bereichen Musik und Literatur begegnet, die den einzelnen Menschen 15.000 EUR zur Verfügung stellen. Die Frage stellt sich hier, wer ist eigentlich wieviel Geld wert?
Grundsätzlich ist unser Programm erst einmal eine Möglichkeit, zu sehen, welches Angebot es eigentlich gibt. Die Teilnehmenden erhalten einen Überblick darüber, was es für Ausbildungen und Förderungen gibt. Wir versuchen, die Barrieren für und durch Familie und in der Community mitzudenken, indem wir unsere Workshop-Zeiten flexibel an den Teilnehmenden orientieren. Das heißt, später kommen, früher gehen und auch mal einen Termin nicht da sein, ist bei uns im Programm möglich. Viele junge Menschen sind oft mit Aufgaben wie Betreuung der Geschwister oder der Eltern, mit denen sie zu Terminen gehen, beschäftigt und deswegen versuchen wir, da flexibel zu sein. Zum Beispiel können Geschwisterkinder zu den Aktivitäten mitgebracht werden, sie sind sehr willkommen, sie werden bei Bedarf auch von anderen Teammitgliedern betreut und wir leisten auch bei Bedarf Aufklärungsarbeit in den Familien.
DOore tOx Antrie: Eine zusätzliche Hürde kann die internalisierte Gewalt sein, also die -Ismen, die immer wieder reproduziert werden, sodass zum Beispiel bei Menschen aufgrund von Assimilation der Gedanke entstehen kann, man sei nicht genug, Tanz zu machen, dort zu sein, in diesen Räumen bestehen zu können, keine Norm zu sein. Und ja, ein Aspekt davon ist auch die fehlende Repräsentation.
Silke Ballath: Natürlich ist auch das Budget immer eine Frage, vielleicht hier nur ein Punkt dazu: Stipendien gibt es nur für bestimmte Menschen.
Bahar Meriç: Den Punkt Ausbildung möchte ich kurz erläutern, weil uns das besonders wichtig ist. Hochschulen und Theater sind Orte, an denen sich zeigt, wie Gesellschaft sich wahrnimmt, welche Verortung und welche Wahrnehmungen sie von Kultur einnimmt. Wenn also Kultur ein diverses Feld von Repräsentation einnimmt, sollte sie nicht an Ressourcen geknüpft sein. Dies ist allerdings der Fall. Die Dozent*innen an Hochschulen sind meist die formalisierte Ausbildung durchlaufen. Rassismus und Diskriminierungserfahrungen spielen in ihrer Arbeit selten oder keine Rolle. Hinzu kommt der Aspekt, dass urbane Tanzrichtungen, wie zum Beispiel der Urban Dance, Flamenco, türkische und arabische Volkstänze, also die Kultur- und Kunstpraxis der jungen Menschen, die wir ansprechen, vornehmlich in ihren jeweiligen Communities platziert ist und meist in der Öffentlichkeit eher kommerzialisiert präsentiert wird. Dabei rückt die eigentliche künstlerische virtuose Qualität und auch die sozialkulturelle Bedeutung in den Hintergrund. Das heißt, dass das Wirken solcher Tanzstile innerhalb der Tanzszene überhaupt nicht präsent ist. Und so kommt es auch dazu, dass die Stilrichtungen eben in den Hochschulen kaum Platz finden und dass es zum Beispiel keine Professur für Krump-Tänzer*innen oder türkische Folklore gibt.
DOore tOx Antrie: So kommen wir zum letzten Punkt. Was passiert nach der Ausbildung? Eigentlich fast immer das gleiche wie vor der Ausbildung. Sagen wir mal so, man stellt sich die gleichen Fragen: Wer bestimmt, was Kultur ist? Im Grunde möchten wir euch gern zwei Fragen mit auf den Weg geben: Ist Kunst in unseren Institutionen heute nicht viel mehr ein Produkt des Kapitalismus’ als eine fortlaufende künstlerische, gemeinschaftliche, erfahrbare Tradition? Und die andere Frage: Begreifen wir Kunst als Praxis von einer Gesellschaft oder von mehreren gleichwertigen Communities? Und warum?
Im Gespräch
Ich gebe euch mal zwei Fragen mit: Gibt es ein Auswahlprozess für die Mentees und wenn ja, wie sieht der aus und daran anknüpfend, wie kommt ihr eigentlich an die Mentees ran, wie macht ihr auch aufmerksam und wie wirkt ihr in verschiedene Communities rein?
Bahar Meriç: Wir sind an verschiedenen Schnittstellen unterwegs, also in der kulturellen Bildung, auf und hinter den Bühnen. Also wir sind recht breit aufgestellt, auch über unser Netzwerk. Wir sprechen ganz aktiv Menschen und Institutionen über ihre Verteiler an, um unsere Ausschreibung zu senden. Wir sprechen Menschen, die wir kennen, persönlich an, ob sie nicht Lust haben, an dem Mentoringprogramm teilzunehmen. Und dann natürlich die klassischen Insta-Website-Geschichten. Zum Auswahlprozess: Also die Menschen, die sich für das Mentoringprogramm interessieren oder daran teilnehmen möchten, bewerben sich nicht, sondern melden sich bei uns an und beschreiben ihre Motivation. Das kann über ein Telefongespräch mit mir passieren, über ein Motivationsschreiben oder eine kurze Mail oder Messenger-Dienste. Also versuchen wir, auf unterschiedlichen Kanälen erreichbar zu sein.
Das einzige Kriterium ist, dass man weiß, warum man sich für das Mentoringprogramm interessiert, warum man teilnehmen will. Das liest oder hört man ja heraus. Ich habe mit fast allen als Ansprechperson auch noch einmal telefoniert. Und ehrlich gesagt sind alle, die sich angemeldet haben, auch dabei.
Wie arbeitet ihr auf der anderen Seite mit den Mentor*innen zusammen? Wie kommt ihr an sie heran, wie ist die Reaktion, wenn ihr potenzielle Mentor*innen anfragt - gibt es vielleicht auch manchmal Vorbehalte? Und kriegen die Mentor*innen Geld dafür - häufig ist es ja ehrenamtlich?
Bahar Meriç: Also die Mentor*innen, die Menschen, die ihre Expertise weitergeben, die werden alle bezahlt und die werden auch so bezahlt, wie wir uns alle wünschen, bezahlt zu werden. Das macht natürlich dann etwas mit dem Programm. Es gibt sehr viel Ehrenamt aus dem Verein heraus, aber die Künstler*innen und Mentor*innen, die wir ansprechen, werden vergütet. Bei uns heißt die Anfrage: Was möchtest du dafür haben, das ist der Kontext des Programms. Und dann versuchen wir das möglich zu machen. Dann gibt es auch noch viele Menschen, die innerhalb der Kooperation, also im Namen ihrer Institution, mit uns sprechen und die müssen wir dann natürlich nicht vergüten. Das übernehmen dann die Institutionen - also Theater, Kunsthochschulen, Initiativen.
Ehrlich gesagt haben wir für diesen ersten Piloten gesagt, dass wir nur Menschen nehmen, die wir gut kennen, sowie deren Arbeitspraxis und kulturpolitische Haltung. Bei denen wir wissen, dass wir auf dem gleichen state of mind (Nenner) sind. Es sind Freund*innen, enge Kolleg*innen, Menschen, mit denen wir zusammengearbeitet haben. Und von Seiten der Kunsthochschulen haben wir sehr viele Vorgespräche geführt. Wir sind zum Beispiel nach NRW gefahren und haben die Menschen getroffen, um ein Gefühl für sie zu bekommen, auch um einen Schutzrahmen für unsere Teilnehmenden zu bieten
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