Lookism
Das Aussehen als Aspekt sozialer Ungleichheitssysteme
Autor*in: Steffen Loick Molina
Am 30.06.2019 steigt Latisha Rowe zusammen mit ihrem Sohn in ein Flugzeug, um von Kingston, Jamaica, nach Miami, USA, zu fliegen. Kurz nach dem Boarding bittet das Airline-Personal sie um ein Gespräch, in dem sie aufgefordert wird, ihren Körper zu bedecken. Andernfalls dürfe sie nicht mitfliegen. Als Grund für diese Maßnahme nennt eine Flugbegleiterin die aus ihrer Sicht ‚unangemessene‘ Bekleidung von Latisha. Sie trägt einen trägerlosen Jumpsuit, ihre Beine, Schultern und Arme sind sichtbar. Um ihren Sohn nicht weiter durch den Vorfall zu beängstigen, willigt Latisha ein, ihren Körper mit einer Decke der Fluglinie zu umhüllen. Nach dem Flug teilt Latisha diese Erfahrung und Bilder von ihrem Outfit auf Twitter. Später schreibt sie dazu:
„My shorts covered EVERYTHING but apparently was too distracting to enter the plane“[1], und: „We are policed for being black. Our bodies are over sexualized as women and we must ADJUST to make everyone around us comfortable. I've seen white women with much shorter shorts board a plane without a blink of an eye. I guess if it's a 'nice ass' vs a @Serena Booty it's okay...“[2]
Latisha Rowes Körper wurde im Kontext der Flugreise als Störung eingestuft. In ihrer Deutung hängt das damit zusammen, dass Schwarze Frauen hypersexualisiert werden. Die sexualisierte Lesart ihres Aussehens als anstößig legitimiere so einen doppelten Standard und letztlich die Diskriminierung seitens der Airline. Das Beispiel von Latishas Erfahrung weist darauf hin, dass gleichzeitig sexistische und rassistische Facetten zu ihrer sozialen Beschämung und der symbolischen Verbannung ihres Körpers aus der öffentlichen Sphäre des Flugzeugs beigetragen haben. Das Zusammenwirken der Diskriminierungsfaktoren wurde an der Sichtbarkeit ihres Körpers und dessen Wahrnehmung an dem spezifischen Ort wirkmächtig. Das Aussehen von Latisha Rowe wurde so zum Knotenpunt mehrerer Blickregime gemacht.
Solche oft impliziten Normierungen, Regeln und Interventionen zu dem Aussehen von Körpern, einzelnen Körpermerkmalen, der Weise sich zu kleiden oder zu stylen sowie zu den Körperbewegungen fußen in systematischen Praktiken des Ansehens und Betrachtens. Hierfür können neben Sexismus und Rassismus weitere Diskriminierungsmechanismen relevant sein. Das ‚Aussehen‘ ist unter anderem auch ein möglicher Ankerpunkt im sozialen Ausdruck von Disableism, Klassismus, Ageism sowie von Trans*- und Fett-Feindlichkeit. Die verschiedenen Diskriminierungsebenen verbindet, dass sie in ihrer jeweiligen Ideologie auch visuell vermittelt sind. Nämlich, indem sie eine normative Körperästhetik entwerfen. Diese priorisiert oder schützt bestimmte Körper und körperliche Erscheinungsweisen gegenüber anderen.
Eine grundlegende Praxis, mit der das Aussehen zum Gegenstand der verschiedenen Ungleichheitsordnungen gemacht wird, stellen die geläufigen Unterscheidungen von ‚schön‘/‚hässlich‘, ‚attraktiv‘/‚unattraktiv‘ oder, wie im obigen Beispiel, in ‚angemessen‘/‚unangemessen‘ dar. Im Zuge der Beschreibungen kann das körperliche Aussehen im Kontext unterschiedlicher Situationen auf- oder abgewertet und so für weitere diskriminierende Handlungen anschlussfähig gemacht werden. Indem z.B. als ‚alt‘, ‚dick‘ oder ‚behindert‘ bezeichnete Körper regelmäßig als ‚hässlich‘ deklariert werden, und relational dazu das ‚junge‘, ‚schlanke‘ und ‚unversehrte‘ Aussehen stets als das ‚schönere‘ und ‚normale‘ erscheint, überlagern sich die wertenden Zuordnungen an der körperlichen Erscheinung von Menschen.
Lookism: Zur Herkunft des Konzepts
Seit einigen Jahren wird der Zusammenhang dieser Differenzkonstruktionen und Normen in Bezug auf das menschliche Aussehen verstärkt unter dem Begriff ‚Lookism‘ bzw. ‚Lookismus‘ thematisiert. Die Bezeichnung leitet sich von dem englischen Substantiv für ‚Aussehen‘ (‚Look‘) ab, und verweist zudem auf das Verb ‚blicken‘ (‚to look‘). Das dahinterstehende Konzept bezieht sich zugespitzt auf zwischenmenschliche Handlungen, kulturelle Deutungsmuster und Technologien, mit denen das Aussehen zur Bewertungsgrundlage von Menschen wird. Dies umfasst sowohl den systematischen Ausschluss wie auch die Bevorzugung von bestimmten Körpermerkmalen in ihrer sozialen Rahmung.
In der sozialwissenschaftlichen und -psychologischen Forschung führt Lookism vor allem auf US-amerikanische Studien zurück, die seit den 1990er Jahren empirisch untersucht haben, wie sich das individuelle Aussehen von Angestellten auf ihr Gehalt, die Karrierechancen und die Position auf dem Arbeitsmarkt insgesamt auswirken. Die Untersuchungen verdeutlichen zusammengenommen für viele Berufsfelder, dass das Aussehen einen strukturell verankerten Diskriminierungsfaktor auf dem Arbeitsmarkt und bei der konkreten Erwerbstätigkeit darstellt.[1] Frauen wie Männer, die im jeweiligen Arbeitsumfeld als ‚gutaussehend‘ gelten, werden demnach gegenüber anderen, die nicht das ‚richtige Aussehen‘ verkörpern, bevorzugt angestellt, besser bezahlt und für kompetenter gehalten. Karrierenachteile durch ‚gutes‘ Aussehen wurden dagegen lediglich für spezielle Tätigkeitsbereiche ausgemacht, wie etwa im Falle von Gefängniswärterinnen, die verstärkt mit Sexismus konfrontiert sind.
Besonders im öffentlichen Sektor der interaktiven Dienstleistungsberufe, den Frontdesk-Jobs und in der Medien- und Unterhaltungsbranche hängt den Untersuchungen zufolge der größere berufliche Erfolg mit dem Aussehen zusammen. Das liegt daran, dass die Körper der Angestellten häufig einen Aspekt der ‚ästhetischen Arbeit‘ erfüllen, die Unternehmen nutzen, um ein bestimmtes Image ihres Angebots für kommerzielle Vorteile zu kreieren. Die körperlichen Attribute, ein stylisches und gepflegtes Aussehen sind in diesem Sinne oft Teil der unternehmerischen Marketingstrategie. Dabei werden das soziale Milieu, die sexuelle Orientierung oder die ethnische Zugehörigkeit der Angestellten im Rahmen der dargestellten Affekte, Sprachstile, Körpersprache und Kleidung insbesondere in Berufsfeldern wie dem Einzelhandel und der Gastronomie eingebracht. Die Verknüpfung der Erscheinung mit den erhofften Gewinnen baut darauf, dass stereotype Erwartungen und ein Attraktivitätsempfinden seitens der Kund*innen angesprochen werden. Der von den Arbeitgebenden priorisierte, passende ‚Look‘ ist entsprechend oft deckungsgleich mit der von ihnen so wahrgenommenen physischen ‚Attraktivität‘ der Angestellten.
Die Schlussfolgerungen der Studien zu Lookism im Bereich der Erwerbsarbeit lassen sich auf den Punkt zuspitzen, dass das Aussehen der Angestellten sozial wie ökonomisch unterschiedlich bewertet wird. Das bedeutet, dass die äußerlichen Merkmale von Menschen hier eine relevante Ebene darstellen, auf der sie unter Umständen benachteiligt oder ausgeschlossen werden. Die unterschiedliche Bewertung von Körpern auf dem Arbeitsmarkt hat Diskussionen um die Aufnahme des ‚Aussehens‘ als formalrechtliches Kriterium in staatliche Anti-Diskriminierungsgesetze in Gang gesetzt. Während dies in Deutschland bislang in keiner Rechtsnorm umgesetzt wurde, hat der Bundesstaat Victoria in Australien die Kategorie in den Gesetzestext aufgenommen. Darin werden körperliche Eigenschaften genannt, über die Menschen keine Kontrolle haben würden und die als unveränderlich gelten. Aufgelistet werden etwa die Körpergröße, das Gewicht, der Umfang der Gliedmaße und Merkmale wie Narben, Hauterscheinungen und Male.[2]
Die Debatte um die Aufnahme der Kategorie in die Anti-Diskriminierungsgrundlagen birgt die Problematik, dass sich die Kriterien und Mechanismen um ‚gutes‘ oder ‚schlechtes‘ Aussehen kaum objektivieren lassen, ohne dabei nicht die zu überwindenden Stereotypisierungen festzuschreiben. Welche Aspekte des Aussehens genau gemeint sind – graue Haare, schiefe Zähne, die Brille und/oder der Bauchansatz – lässt sich nicht festlegen. Zudem scheint die Grenze zwischen den als unveränderlich geltenden und den veränderbaren Merkmalen im Lichte von Diäten, Fitness, Kosmetikindustrie und kosmetischer Chirurgie normativ aufzuweichen. Der begrenzten Bandbreite an akzeptablen Körperformen steht eine immer höhere Bandbreite an Modifikationsmöglichkeiten gegenüber. Dabei werden auch die Anzeichen der vormals als natürlich-kodierten Alterserscheinungen, Geburtsmarker oder das Körpergewicht in den öffentlichen Diskursen zunehmend als Frage der eigenen, verantwortungsvollen Körpergestaltung verhandelt.
Das Recht, selbst zu entscheiden, wie man aussieht und gesehen werden möchte, ist ein zentrales Versprechen der modernen Lebensführung. Die damit verknüpfte Freiheit lässt sich mit Blick auf die ungleiche Bewertung des Aussehens jedoch auch als Zumutung verstehen, den eigenen Körper stets möglichst selbstbestimmt gestalten zu müssen und möglichst ‚gewollt‘ so auszusehen, wie man aussieht. Die Ambivalenz zwischen Gestaltungsfreiheit und -direktive basiert auf breiteren kulturellen, sozialstaatlichen und ökonomischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Im Zuge dessen haben sich seit den 1980er Jahren wohlfahrtsstaatliche Vorsorgesysteme und Dienstleistungen immer mehr auf die Selbstfürsorge und unternehmerische Eigenverantwortung der Bürger*innen verlagert. Dem Körper wird parallel dazu mit den gesellschaftlichen Prozessen der vermeintlichen ‚Individualisierung‘ und ‚Pluralisierung‘ von Lebensformen höherer Stellenwert als zuvor zugewiesen. Er wird im neoliberalen Diskurs als Ausdruck einer eigenen Positionierung innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges und Grundlage der selbstgewählten Lebensweise beschrieben. Der Gewinn der eigenen Handlungsmacht wird hier paradoxerweise in den Praktiken der Körperoptimierung – Meditation, Freeletics, Intervallfasten – verortet, die zu den Anforderungen des modernen sozialen Lebens passen.
Das Aussehen als Lesart zur Person
Lookism lässt sich nicht nur im Hinblick auf die Diskriminierungsformen des Aussehens beschreiben, auch die dahinterstehenden Praktiken des Ansehens oder Betrachtens von Menschen und Körper/teilen sind dafür relevant. Diese basieren auf Sozialisations- und Lernprozessen sowie Techniken, die von Normen und Perspektiven geprägt sind, und über die sich Menschen nicht immer bewusst sind. Die Differenzierung und verallgemeinernde Einschätzung von Menschen auf Basis ihrer körperlichen Erscheinung stellt zunächst ein Grundprinzip der sozialen Alltagsinteraktion und von organisationalen Abläufen dar. Auf der Grundlage davon, ob ein Gegenüber etwa für ‚jugendlich‘, ‚erwachsen‘, ‚weiblich‘ oder ‚männlich‘ gehalten wird, lassen sich unterschiedliche Handlungsorientierungen aufrufen. Das praktische Wissen darüber, was welche Körper in der jeweiligen sozialen Interaktion bedeuten, ist verinnerlicht. Das eigene Wahrnehmungsmuster funktioniert dabei im Wechselspiel mit der erwarteten Kategorisierung durch das soziale Gegenüber.
Doch über die zwischenmenschlichen Orientierungen des Alltags hinaus, werden am Aussehen auch kulturell-verfestigte und symbolische Zuschreibungen festgemacht, die in den sozialen Interaktionen als Wertungen relevant werden können. Körperliche Merkmale erscheinen dabei als unmittelbarer ‚Beweis‘ für eine bestimmte Persönlichkeit, Verhaltensweisen und Fähigkeiten von Menschen. Lookistischen Handlungen liegt daran anknüpfend oft die Vorstellung zugrunde, dass wir genau das sind, wie wir aussehen – und das verkörpern, was wir sind. Körper drücken demnach für sich genommen und selbstredend Bedeutungen aus. Beispielsweise stellen die Annahmen, dass ‚dicke‘ Menschen tendenziell als undiszipliniert, ‚alte‘ Menschen als unflexibel oder griesgrämig, und Schwarze Menschen als potenziell kriminell einzuschätzen sind, derzeit dominante kulturelle Deutungsfolien dar.
Die körperlichen Kategorisierungen sind neben dem sprachlichen Vokabular, Konzepten und Techniken auch durch den Kontext, in dem gesprochen wird, vermittelt. Ein bestimmtes Styling wie angeklebte Fingernägel kann beim Vortrag der Akademikerin für Irritation bei den Zuhörenden sorgen, und in anderen Kontexten erwartet werden. Anders herum sagt eine bestimmte Anordnung von Falten im Gesicht für sich genommen nichts über die Person aus. Wenn diese Gesichtsform etwa mit den Begriffen ‚Zornesfalte‘, ‚Tränensäcke‘ oder ‚Krähenfüße‘ beschrieben wird, kann sie jedoch im medizinischen Rahmen als behandlungsbedürftig verstanden werden. Das hängt auch damit zusammen, dass die Begriffe dem Körper symbolische Bedeutungen wie Zorn oder Traurigkeit zuordnen bzw. die Gesichtsfalten im Bereich des Tierischen verorten. Das Gesicht erscheint so in Bezug auf einen idealtypischen Status der menschlichen Person grenzwertig.
Die vorherrschenden Lesarten des Aussehens haben insbesondere für die jeweils adressierte Personengruppe handlungswirksame Konsequenzen. Das Motiv, qua Styling oder Fettabsaugung zu bestimmten sozialen Gruppen zugerechnet zu werden – und sich von anderen abzugrenzen, jung zu bleiben oder muskulös zu werden, verweist so auch auf die Hierarchisierung der kategorischen Unterscheidungen von Körpern. Das ‚Normale‘ ist dabei der Werthorizont, an dem sich die Abweichungen bemessen. Wie der Kulturhistoriker Sander L. Gilman an der Geschichte der kosmetischen Chirurgie verdeutlicht, reflektieren die vorherrschenden ästhetischen Körperideale in dieser Hinsicht das politische Profil von Gegenwartsgesellschaften.[3]
Gilman zeichnet nach, wie sich die anerkannten Gründe für die kosmetisch-chirurgischen Eingriffe im Verlauf der letzten Jahrhunderte stark gewandelt haben. Zum Beispiel wurzeln die heutigen Techniken der kosmetischen Nasenoperation in der sozialen Stigmatisierung von Krankheitsmarkern der Syphilis im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Das Aussehen der Nasenform wurde in den 1920er und 30er Jahren im Kontext des Antisemitismus für jüdische Männer in Deutschland ebenfalls zum Kriterium der sozialen und ökonomischen Position und Teilhabe. Mit einer nicht als ‚jüdisch‘ identifizierbaren Nase wurde die Hoffnung auf ein Durchgehen als ‚normal‘ – das Passing in der Verfolgungsgesellschaft verknüpft.
Viele der ersten Patient*innen der kosmetischen Chirurgie waren dementsprechend jüdische Männer. Erst seit den 1950er Jahren stiegen die Verbreitung und Nutzung der kosmetischen Chirurgie ausgehend von Frauen in den USA rasant an. Nach einer Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie (DGÄPC) liegt der Anteil an Personen, die 2018 eine Behandlung der kosmetischen Chirurgie gewählt haben, zu 84,3% bei Frauen.[4] Seit den 1990er Jahren haben sich auch die öffentlichen Diskurse um die Verfahren erneut geändert. Die meisten der heute kaum noch aufsehenerregenden kosmetisch-chirurgischen Angebote beziehen sich darin auf so gedeutete Anzeichen des Alterns, der geschlechtlichen Uneindeutigkeit und des Körperfetts. Bei der Bearbeitung des ‚normalen‘ Aussehens geht es verallgemeinert also häufig um die Annäherung an einen relativ ‚fit-‘ und ‚aktiv‘-kodierten (weiblichen) Geschlechtskörper.[5] Die Anerkennungswürdigkeit von Menschen in sozialen Beziehungen wird dabei über das Konzept des ‚jugendlichen‘ Aussehens festgemacht. Forschung zu Ageism verdeutlicht, dass die Erwartung, auch im Alter äußerlich ‚das Beste‘ aus sich zu machen, Frauen im mittleren Lebensalter zwischen 40 und 60 Jahren besonders problematisiert.
Gut Aussehen im Alter
Wie soziale Ungleichheitsordnungen oft auch durch lookistische Mechanismen vermittelt sind, lässt sich am Beispiel der Alterskategorisierungen nachzeichnen. Während einige der gängigen Attribuierungen wie Gender, race oder die Körpergröße auch jenseits von Kosmetik und Chirurgie als biologisch gesetzt gelten, verändert sich der Altersstatus im Lebensverlauf. Menschen wechseln idealtypisch zwangsläufig die Alterskategorien und so auch die damit verknüpften Zuschreibungen wie ‚jung‘, ‚jugendlich‘, ‚mittleres Alter‘ und ‚alt‘. Die Unterscheidung zwischen ‚jugendlichem‘ und ‚älterem‘ Aussehen stellt quer dazu gegenwärtig eine besonders wirkmächtige Ordnung dar, entlang der die Erscheinungsweise von Menschen bewertet wird. Deutlich wird dies z.B. daran, dass es stets als Kompliment gilt, jemanden ein jüngeres Alter zu bezeugen, als Sie_Er tatsächlich ist. Mitzuteilen, dass jemand älter als das chronologische Alter aussieht, ist dagegen im Erwachsenenalter tendenziell als Beleidigung denkbar. Eine andere geläufige Erzählung dazu besagt, dass Menschen sich beim Spiegelblick jünger fühlen würden, als ihr Äußeres widerspiegelt. Der alternde Körper wird so durch das Ideal des Jugendlichen betrachtet und mit einem Verlust verknüpft. Das ‚jugendliche‘ Aussehen wird gegenüber dem ‚älteren‘ Aussehen als die per se ‚bessere‘ Qualität gedeutet.
Physiologisches Altern wird oft körperlichen Merkmalen wie grauen Haaren, Falten, Hautflecken, Adern oder Körperhaltungen zugeordnet. Wie genau sich Körper im Zeitverlauf verändern, welche Fertigkeiten, Erfahrungen oder Krankheiten damit verbunden sind, ist jedoch hochgradig individuell und von sozioökonomischen Ressourcen beeinflusst. Während einige dieser Merkmale andeutungsweise sozial erwartet werden, sind die offensichtliche Altersversehrtheit des Körpers, Gebrechlichkeit oder das Angewiesen-Sein auf Assistenz durch andere, sprich das ‚ganz alte Alter‘ stark negativ kodiert.
Der Kontext davon ist, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten die Art und Weise zu altern in westlichen Nationen verstärkt zu einer Dimension von öffentlichen Debatten entwickelt hat. Dies basiert einerseits auf einer Verbesserung von Lebensstandards in Bezug auf Ernährung, den allgemeinen Wohlstand und den Zugang zu medizinischer Versorgung, die seit dem zweiten Weltkrieg zu der durchschnittlichen Verlängerung der Lebenserwartung geführt haben. Andererseits ist damit für viele Bevölkerungen eine veränderte Zusammensetzung der Altersstruktur verbunden, die als wirtschaftliche, sozialstaatliche und intergenerationale Herausforderung beschrieben wird. Die ‚alternde‘ und ‚immer älter werdende‘ Bevölkerung wird medial oft im Zusammenhang mit einem kostenbelasteten Rentensystem, drohender Altersarmut, Missständen in Pflegeheimen, Missbrauch oder Einsamkeit thematisiert. Der Verlust der eigenen Autonomie wird darin mit dem verfallenden Körper, der durch andere, die jüngeren Generationen versorgt werden muss, parallelisiert.
Das Älterwerden ist vor diesem Hintergrund mit konkreten kulturellen und sozialpolitischen Thematisierungen und Ängsten verknüpft, die mit der sozialen Entwertung des älteren Aussehens einhergehen. Die unternehmerische Produktivität im Alter ist an das Gebot gebunden, möglichst ‚aktiv‘ und ‚erfolgreich‘ zu altern. Neben dem Reisen, lebenslangem Lernen und einem ausgeprägten Sozialleben wird dafür der Körpererscheinung – insbesondere der Haut – eine hervorgehobene Rolle zugeschrieben. Denn Altern wird in vielen Diskursen als etwas entworfen, das man losgelöst vom chronologischen Älterwerden am Körper gestalten kann. Indem Menschen z.B. auf das Rauchen und Trinken verzichten, Sonnenschutz mit einem positiven Selbstwertgefühl kombinieren, sollen sie das so genannte ‚vorzeitige Altern‘ durch die ‚richtigen‘ Lebensstilentscheidungen verhindern.
‚Attraktivität‘ und die subjektive Rahmung von Lookism
Die positiven Zuschreibungen zu einem bestimmten Aussehen wurden in biopsychologischen Studien nicht nur für den Arbeitsmarkt beschrieben, auch gutaussehende Schüler*innen erhalten demnach mehr Zuwendung oder die wohlwollendere Leistungsbewertung, attraktive Straftäter*innen ein milderes Urteil. Selbst Babys würden die ‚attraktiveren‘ Bezugspersonen bevorzugen. Das Problem der unbewussten Stereotypisierung aufgrund des Aussehens wird in manchen Bereichen inzwischen umgangen, indem z.B. Bewerbungsfotos in manchen Branchen unüblicher werden, oder – wie in der TV-Sendung ‚The Voice‘ die Bewerber*innen ihren zunächst Gesang vortragen, ohne dass die Jury sie sehen kann (‚blind auditioning‘). Doch die zugrundeliegenden Mechanismen von Lookism sind deshalb so schwer aufzubereiten, weil die Bevorzugung bzw. die Benachteiligung anhand des Aussehens oft implizit verläuft und Teil der subjektiven Wahrnehmungsprozesse ist.
Die Weise, wie das Attraktivitätsempfinden derzeit gedeutet wird, hängt mit dem Zusammenwirken von zwei vorherrschenden Erzählungen zusammen. Einerseits liegt Attraktivität ‚im Auge der Betrachtenden‘, sie ist vom persönlichen Geschmacksurteil abhängig und kommt dazu von ‚Innen‘. Das rhetorische Modell der Gleichheit – alle sind auf ihre Weise ‚schön‘ – wird gleichzeitig jedoch oft populärwissenschaftlich mit universellen Prinzipien und Idealen konterkariert. Diese würden unabhängig von Kultur und Zeitgeschichte fortbestehen und sich nicht verändern. Das, was Menschen demnach ‚immer schon‘ und ‚überall‘ für anziehend gehalten haben, gilt dabei biologisch fundiert. Symmetrische Gesichter, ein proportionales Verhältnis von Gesichtszügen und Körperteilen sowie die deutliche Ausprägung der geschlechtlichen Attribute von weiblich- und männlich-positionierten Geschlechtskörpern werden dann als physische Faktoren für das ‚attraktivere‘ Aussehen beschrieben.
Die medialen Darstellungen zu der vermeintlich universellen Anziehungskraft dieser Merkmale werden häufig durch biopsychologische Forschungsergebnisse der so genannten Attraktivitätsforschung untermauert. Es wird etwa darauf verwiesen, dass die ‚attraktiver‘ empfundenen Erscheinungsweisen auf einer natürlichen Anziehungskraft basieren würden, wie dies z.B. bei einem bunten Pfau oder einer Blume der Fall sei. Daran anknüpfend ist häufig die Rede davon, dass sich evolutionär bedingt die ‚bessere genetische Ausstattung‘ und Fruchtbarkeitschancen implizit am physischen Aussehen erkennen ließen.
Das visuelle Fortpflanzungsprinzip dient so als Erklärungsfolie dafür, dass die subjektiven Empfindungen zwar als Ausdruck des individuellen Geschmacks gerahmt sind, dieser sich jedoch meist auf etwas Normatives bezieht. Indem Biologie bzw. ‚die Natur‘ gegenüber der Person zur Handlungsträger*in erklärt wird, erscheint Heterosexualität als wirkmächtiges Prinzip für das ‚gute‘, ‚gesunde‘, ‚schöne‘ und ‚funktional bessere‘ Aussehen von Menschen. Der ‚Natur‘ kommt in den Diskursen um das Aussehen also auch eine regulierende Funktion zu. Diese wendet sich gegen die Vorstellung, dass Attraktivitätsideale veränderlich sind und von kulturellen Machtbeziehungen strukturiert sein können.
Die subjektive Wahrnehmung von Attraktivität und Schönheit ist somit durchaus ‚real‘ und gleichzeitig sind diese Konzepte nur durch den Kontext der vorherrschenden Ideale, der Sprache und Technologien zugänglich. Das persönliche Körperbild hängt eng mit den Augen der Öffentlichkeit zusammen. In diesem Zusammenhang stellen die Angst davor, ‚hässlich‘ oder ‚unattraktiv‘ zu sein, und weitere Leidensaspekte wie eigener Körperhass bedeutsame Mechanismen von Lookism dar, die auf das Körperselbst gerichtet sind. Wenn wir ‚ganz persönlich‘ unsere Bäuche zu schwabbelig oder das Gesicht zu faltig finden – also der eigene Körper nicht richtig erscheint – steht das in Zusammenhang mit den kulturellen Wahrnehmungs- und Körperschemata.
Visuelle Technologien, digitale Körper, #lookism
Neben diskriminierenden Handlungen wie Beleidigungen oder Bedrohungen, die offensiv am Aussehen festgemacht werden, lässt sich Lookism auf die kulturellen Ideale und Muster zum Aussehen in Film, Fernsehen, Werbung und anderen Formaten beziehen. So werden etwa in komödiantischen Filmen ‚alte‘ oder ‚dicke‘ Charaktere regelmäßig von ‚eigentlich jungen‘ oder ‚schlanken‘ Personen gespielt, Fernsehmoderatorinnen eines ‚gewissen Alters‘ verschwinden von der Bildfläche und in der kommerziellen Werbung sowie anderen Genres der Stockfotografie sind lediglich bestimmte Personen zu sehen. Diese sind überwiegend ‚weiß‘, ‚schlank‘, ‚unversehrt‘, ‚mittleren Alters‘ und haben einen ‚eindeutigen‘ Geschlechtskörper. Im Vergleich zu der hohen Alltagsvarianz an Körpern, sind medial also überwiegend sehr spezifische Körper sichtbar.
Das medial vorherrschende Bild von Körpern und einem ‚normal‘ erscheinenden Aussehen ist eng mit den zeitgenössischen Bildtechnologien und der visuellen Kultur verstrickt. Nicht nur Disney-Held*innen, Fernseh-Moderator*innen oder Werbefiguren sehen in dieser Hinsicht oft ähnlich aus, auch die Bilder, die Menschen von sich auf Facebook, Instagram oder Twitter teilen, folgen bei genauer Betrachtung bestimmten Regeln und Mustern. Diese hängen immer auch mit der technologischen Infrastruktur des Mediums zusammen. Spiegel, Fotos, Handyvideos oder medizinische Apparate vermitteln einerseits den Zugang zu dem eigenen Aussehen und körperlichen Selbstverständnis. Andererseits perspektiveren die unterschiedlichen Medienformate den Körper dadurch, dass z.B. bestimmte Ansichten ermöglicht werden und andere ausgeschlossen sind.
Mit der Entwicklung und Verbreitung visueller Technologien und des Internets stellen digitale Körperbilder zunehmend selbst ein Medium im Zugang zu zentralen Bereichen des Sozialen dar. Zum Beispiel verwenden und produzieren die so genannte Terrorabwehr und Kriminalitätsprävention, die öffentliche Verwaltung, das Gesundheits- und Versicherungswesen, Dating-Apps und Social Media digitale Informationen zum menschlichen Körper. Diese nehmen auf Grundlage der verallgemeinernden und kategorischen Lesarten auf das Aussehen und körperbezogene Merkmale Bezug. Es werden eine Vielzahl an lookistischen Praxen im Digitalen wirksam, indem einfach gesprochen der Körper klassifiziert, eingelesen und als digitale Daten hervorgebracht wird.
Grundlegend dafür ist, dass die digitalen Visualisierungen von Körpern und Bildtechnologien Teil davon sind, wie Menschen sich verstehen und reflexiv Identität konstruieren. Dabei stellt der Körper eine Schnittstelle zwischen technologischer Inszenierung, sozialer Interaktion und Anerkennung dar. Viele Social Media-Plattformen wie YouTube, Facebook oder Instagram funktionieren nach dem Prinzip des Status-Updates zum körperlichen Selbst. Im Rahmen von regelmäßigen Veröffentlichungen von eigenen Informationen zu Erfahrungen oder Lebensereignissen werden Körper und damit das eigene Aussehen in diesen Bereichen also immer mehr zur sozialen Ressource. Das digitale Körperselbst basiert auf interaktiven Kommentaren, den Likes und dem Teilen der Inhalte durch andere (followers).
Das digitale Aussehen hängt wie beim typischen Selfie-Format nicht nur von dem Aufnahmewinkel und der Pose ab, zunehmend werden auch dessen Veränderung durch Filter und Bildbearbeitungs-Apps zum Darstellungsprinzip. Körpermerkmale wie die Knochenstruktur des Gesichts oder die Länge von Gliedmaßen lassen sich damit an das symmetrische Prinzip anpassen, die Haut aufhellen oder Augen und Lippen vergrößern. Diese Aspekte tragen dazu bei, dass die Wahrnehmungsweise von Körper und Selbst im Austausch mit den Technologien steht und Abweichungserfahrungen dafür bedeutsam sind. Denn Körper fügen nicht so einfach der Kontrolle durch Ernährung, Sport, Kosmetik und Bildbearbeitung. Sie sind ‚eigensinnig‘ verfasst und befinden sich stets im Prozess der Veränderung.
Für die soziale Erfahrung der eigenen Sichtbarkeit stellen zudem das Zeigen und Markieren von Körperbildern durch Hashtags bedeutsame Bezüge her. Diese sind zugleich ein potenzieller Ankerpunkt der lookistischen Körperpolitiken, von Hass und Angriffen im Internet. An den gegenwärtigen visuellen Kulturen verdeutlicht sich so ein ambivalentes Verhältnis von Körperidealen. Trotz der Vielfalt an Möglichkeiten – Apps wie kosmetischen Maßnahmen – das eigene Aussehen selbst zu gestalten, scheinen die sichtbaren Bildformate immer homogener zu werden und sich Körpernormen zu intensivieren. Die hohe Varianz an sichtbaren Körpern und Ausdrucksformen des Alltags wird also zunächst im Effekt vieler Körpertechnologien reduziert.
Auf der anderen Seite eignen sich diverse Menschen und Bewegungen, deren Anliegen eine körperpositive Haltung zum Ausdruck bringt, die (digitalen) Sichtbarkeitsfelder an. Für den offenen Diskurs um die Bewertung von Körpern und ihrem Aussehen sind Feminismus, critical race, Trans*- und Fat-Aktivismus oder Anti-Ableism grundlegend. Die Strömungen verfolgen zwar jeweils spezifische Handlungsziele und Identitätspolitiken – diese sind von der bewertenden Einteilung des Aussehens in ‚schön‘ und ‚hässlich‘ jedoch nicht zu trennen.[6] Deutlich wird das etwa an zentralen Wendungen und Hashtags wie „black is beautiful“, „big is beautiful“ oder „pro age“. Eine anti-lookistische Haltung und daran ansetzende Anti-Diskriminierungsmaßnahmen können immer nur im Plural mit weiteren Bewegungen gedacht werden. In diesem Sinne: „all bellies are beautiful!“.
Steffen Loick Molina arbeitet seit 2015 als wissenschaftlicher Referent am Deutschen Jugendinstitut e.V. in München. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Soziologie des Körpers und der Kindheit, Gender und Queer Theorien sowie praxis- un
[1] vgl. Waring, Peter (2011): Keeping up Appearances: Aesthetic Labour and Discrimination Law. Journal of Industrial Relations 53(2): 193-209.
[2] vgl. Warhurst, C./van den Broek, D./Hall, R./Nickson, D. (2009): Lookism: The new frontier of employment discrimination? Journal of Industrial Relations 51(1): 131-136.
[3] vgl. Gilman, Sander L. (1999): Making the Body Beautiful. A Cultural History of Aesthetic Surgery. Princeton, NJ.
[4] vgl. www.dgaepc.de/wp-content/uploads/2018/10/DGAEPC-Statistik_2018.pdf, S. 8.
[5] Für einen einführenden Überblick zu den neueren Praktiken und Diskursen der Körperbearbeitung: Villa, Paula-Irene (Hg.) (2008): schön normal: Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst. Bielefeld.
[6] Für eine Einführung in die unterschiedlichen Facetten von Lookism: Diamond, D./Pflaster, P./Schmid, L. (Hg.): Lookismus: Normierte Körper, Diskriminierende Mechanismen, (Self-)Empowerment. Münster.
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